2. Kapitel

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Sie schlug mich. Immer und immer wieder traf die Hand meiner Mutter klatschend meine Wangen. Mal links, mal rechts. Heute musste sie wirklich einen besonders schlechten Tag haben. Denn normalerweise gab sie sich nach sechs, acht Ohrfeigen auf jeder Wange zufrieden. Aber jetzt waren wir schon bei Nummer zwölf auf jeder Seite, insgesamt vierundzwanzig, und sie hatte noch nicht aufgehört.
Mir war das egal.
Mit ausdrucksloser Miene stand ich an der Wand und ließ Vylanaras Schläge auf mich niederhageln, den Blick ins Leere gerichtet. Mein Vater war bei Gina, um sie davon abzuhalten, von unten nach oben, zu meinem Zimmer zu gehen. Weil Gina wusste nicht, dass meine Eltern mich schlugen und sie wollten das offenbar so lang wie möglich erhalten. Mittlerweile, stellte ich fest, waren wir bei Ohrfeige Nummer zwanzig auf jeder Seite angekommen. Meine Wangen brannten nicht einmal mehr, fühlten sich einfach nur taub an. Als hätte meine Mutter sämtliche Nerven zerschlagen. "Hast du's bald?", fragte ich gelangweilt. Vylanara fauchte, wie eine Katze, irgendein Wort, dass ich nicht verstand. Vermutlich besser so. Sommerferien. Es waren Sommerferien. Bald würde ich in die vierte Klasse in Durmstrang kommen. Das war, mal daran betrachtet, dass ich bald fünfzehn wurde, nicht logisch. Aber in Durmstrang wurden wir erst mit 12 eingeschult. Nicht mit zehn oder elf, wie in den anderen Zaubererschulen Europas üblich. Von der Schule in Deutschland, Goldenberg, mal abgesehen. Die tanzte ebenfalls aus der Reihe, wie Durmstrang. Denn in Goldenberg wurden die Schüler mit 16 eingeschult. Mit 16! Kein Wunder, dass in Deutschland früher die höchste Obscurusrate von ganz Europa geherrscht hatte.
Jetzt spürte ich, dass Vylanara zurücktrat. Anscheinend hatte sie genug davon, mir Ohrfeigen zu geben. Das war nicht unbedingt gut, denn sie wusste, dass sie mich auch dieses Mal nicht gebrochen hatte. Herausfordernd hob ich den Blick und starrte ihr genau in die hellblauen Augen. "Sieh mich nicht an! Nimm deine hässlichen, widernatürlichen Augen von mir!", knurrte sie. Ja, ja. Ich stieß leise den Atem zwischen den Zähnen aus. Verächtlich, geringschätzig. "Warum sollte ich?", flüsterte ich sanft. "Weil ich es sage, du Abschaum!", zischte meine Mutter. Sie zog ihren Zauberstab. Juhu. Jetzt ging es erst richtig los. Die Ohrfeigen waren nur das Vorspiel gewesen. Der Trailer. Ich konnte mich nicht wehren, denn Naryc hatte, wie immer in den Ferien, egal ob Frühlings- oder Sommerferien, meine Zauberstab konfiziert und weggesperrt. Reglos verfolgte ich, wie meine Mutter die Zauberstabspitze auf mich richtete und biss mir auf die Innenseite meiner rechten Wange. Der Geschmack meines Blutes - nach Eisen, Hitze und Salz - half mir, mich zu wappnen. Genau drei Bewegungen mit ihrem Zauberstab waren nötig, dann hatte sie mich zu Boden gebracht. Das ist erbärmlich., dachte ich voller Verachtung und schloss die Augen, wartete auf das Brennen neuer Schnitte. Die neue Narben geben würden. Wie erwartet.
Schmerz.
Wie mit einem Messer verpasste meine Mutter mir die Schnitte, ich spürte das warme Kitzeln, als Blut an meiner Haut hinablief, spürte, wie es mein Hemd befleckte. Es war mir egal. Die Augen geschlossen, vollkommen wort- und bewegungslos, verharrte ich. Auf dem Boden liegend, halb auf der Seite, halb auf dem Rücken. Die Dunkelheit würde kommen und mein Bewusstsein mit sich nehmen. Hatte ich aufgegeben? Nein. Das wusste ich. Tief in mir brannten die Flammen des Lebens noch, die Flammen der Kraft. Der Rache. Eines Tages, das hatte ich mir an dem Tag geschworen, als ich begriffen hatte, dass Vylanara und Naryc mich hassten, da war ich sieben gewesen, würden die beiden es von mir zurückbekommen. Doppelt und achtfach. Nicht jetzt. Geduldig würde ich warten, bis meine Zeit gekommen war. Bis Gina alt genug war, um ohne die beiden zurechtzukommen. Bis sie es verstehen würde. Dann würde ich jene Menschen, die mich in diese Welt gebracht hatten und mich dennoch aus tiefster Seele verabscheuten, töten. Mit Blut, mit Schmerz. Nicht einfach so. Das wäre zu einfach.
Der Nebel der Bewusstlosigkeit sickerte in meine Gedanken wie ein Regentropfen durch Kalkstein. Langsam und stetig. Der Tropfen wurde zu einem Rinnsal. Zu einem Bach. Zu einem Fluss. Zu einem Strom. Zu einer Welle. Eine gewaltige Welle, die mich fortriss von der Realität. Mein Gespür verriet mir, dass Vylanara zurücktrat und ging. Dann wusste ich nichts mehr.

Loveless || Gellert Grindelwald FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt