9. Kapitel

69 7 15
                                    

Auf den folgenden Tagen lag ein Schleier.
Es war, als hätte jemand meine Welt mit einem Stumm- und einem Nebelzauber belegt.
Die harten Worte meiner Eltern kamen nicht zu mir durch, ihre Schnitte brannten nicht.
Aber dafür brannte meine Seele.
Jeder Atemzug fühlte sich an wie mein letzter, es fühlte sich an, als würde ich von innen heraus verbrennen.
Mein Feuer hatte mich früher vor dem Zerbrechen bewahrt.
Nun brachte es mich um.
Denn obwohl jeder Quadratzentimeter meiner Seele schmerzte, spürte ich das Eis, das immer weiter vorrückte.
Die Knie angezogen saß ich auf meinem Bett, die Zähne zusammengebissen, nach Atem ringend, obwohl ich seit Stunden nichts anderes getan hatte, als die Regale mit meinen Büchern anzustarren. Einen Moment lang zuckten meine Gedanken zu dem Zimmer, das meinem schräg gegenüberlag. Ginas Zimmer.
Nein. Nein, nein, nein, nein.
Die mühsam heruntergeschluckten Tränen schnürten mir die Kehle zu, ich krallte meine Finger um den Bettrand, ein unterdrücktes Schluchzen ließ mich erzittern.
Ich kämpfte.
Ich kämpfte gegen die Tränen.
Mit aller Macht.
Ich verlor.
Von schonungslosen Schluchzern geschüttelt ließ ich mich zusammensinken. Bei den Heiligtümern! Nein. Nein, nein, nein, nein. Gina war tot! "Sie ist tot!", fuhr ich mich selbst an und gab mir eine Ohrfeige. Doch ich spürte den Schmerz nicht, spürte nicht das kitzelnde Brennen auf meiner Haut. "Sie ist tot! Sie ist tot, sie ist tot, sie ist tot! Tot! Du kannst sie nicht wieder holen! Niemand kann das! Nur der Meister des Todes. Und der wirst du niemals sein! Niemals!" Selbstgespräche mochten seltsam anmuten, doch seit vierzehn Tagen (seit Gina tot war), führte ich sie täglich.
Mein Selbsthass stieg ins Unermessliche, ich riss den Kopf hoch und starrte mein Spiegelbild finster an, schwer atmend. "Ich hasse dich!", zischte ich, schnappte mir das nächstbeste Buch und warf es auf den Spiegel. Glasscherben flogen splitternd durch die Luft, verteilten sich auf dem Boden, einer zerkratzte mir die Stirn. Ich spürte es nicht. Ich spürte gar nichts. Nur das Brennen in meiner Seele, den unendlichen Schmerz in meinem Inneren.
Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mich aus meinem Fenster geworfen, in der Hoffnung zu sterben. Doch ich hatte Pech: Meine Mutter, Vylanara Irminjia Grindelwald, hatte die Fenster versiegelt.
Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mir die Klinge meines Messers über den Arm gezogen, bis ich mir die Arterien aufgeschlitzt hatte. Wieder hatte ich Pech: Die Klinge war dazu nicht scharf genug.
Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich versucht, mich mit einem Zauber umzubringen. Noch einmal hatte ich Pech: Es waren Ferien und das hieß, dass Vater meinen Zauberstab verwahrte.
Ich hätte alles getan, damit dieser glühende Schmerz in mir verging. Alles. Aber ich konnte nichts tun.
Als ich das realisiert hatte, wich sämtliche Wut aus meinem Körper, ich kniete mich auf mein Bett, lehnte die Stirn an meine Knie und weinte.
Ich durfte nicht einmal sterben, um wieder bei Gina zu sein. Was blieb mir jetzt noch?
Kaum, dass ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, bewegten sich die Schatten in mir. Die dunkle Magie stieß ein schnurrendes Lachen aus und wand sich durch die Ritzen im Boden meines Zimmers. Schwerelos schwebten ihre Tentakeln vor mir, wanden sich sanft und warm um meine Finger. Die Kälte in mir ließ nach, der Schmerz verblasste etwas. "Hallo, meine liebe Freundin.", murmelte ich kraftlos. Auf Englisch, nicht auf Bulgarisch. Die dunkle Magie schnurrte abermals, ihre pulsierenden Bänder formten sich zu etwas, das ein bisschen aussah wie eine Katze. Mit schwarzem, wogenden Fell und schwarzen, leblosen, strudelnden Augen. Ich fürchtete mich nicht, streckte die Hand aus und streichelte die materialisierte dunkle Magie. Meine Finger versanken ein bisschen in dem 'Fell'. Die dunkle Magie schnurrte erneut und rollte sich auf meiner Brust zusammen, wie es auch eine echte Katze tun würde. Nur mal nebenbei erwähnt, das Schnurren der dunklen Magie klang kein bisschen nach Katze. Viel gefährlicher, hinterhältiger, arroganter. Dennoch würde sie mir nichts tun. Denn wir brauchten einander. "Wirst du mir helfen, Rache zu nehmen?", fragte ich und ließ mir das Wort 'Rache' auf der Zunge zergehen.
Natürlich. Ich bin dein Gebieter, Gellert Grindelwald, aber das bedeutet nicht, dass ich dir nicht auch etwas gebe. Du benutzt mich für deine Rache und im Gegenzug werde ich dir gehorchen. Aber nur bis zu einem gewissen Grad, merk dir das!, sie fauchte leise.
"Selbstverständlich nur bis zu einem gewissen Grad. Dein Angebot ist sehr großzügig.", erwiderte ich, nach wie vor auf Englisch.
Ich weiß., die materialisierte dunkle Magie rollte sich auf die Seite und blinzelte mich aus ihren strudelnden, kalten Augen träge an. Nimmst du es an?
Ich atmete ein und spielte kurz mit einer meiner blonden Strähnen. "Ja.", ich lächelte. Ein gefährliches Lächeln. "Ja. Für das größere Wohl, meine Gebieterin." Die dunkle Magie lachte wieder schnurrend. Für das größere Wohl, Gellert Grindelwald. Die Katzengestalt, in etwa so groß wie ein Zwergkaninchen, sprang unnatürlich leichtfüßig auf die Pfoten. Es war ja keine Katze. Es war die dunkle Magie. Soll ich noch bleiben? "Wenn du so lieb wärst, Gebieterin.", sagte ich. Sie schenkte mir ein scharfzahniges Grinsen. Die Zähne dieser Katze waren viel zu lang und spitz für eine wirkliche Katze.
Es war keine Katze. Es war die dunkle Magie.
Ich bin niemals 'lieb'. Ich bin die dunkle Magie. Aber ich werde bleiben. Eine gute Königin steht ihren Untertanen bei., antwortete sie mir und stupste meine Hand an. Ihre Gestalt war niemals warm. Immer kühl. Und doch vertrieb sie die Kälte, das glühende Brennen, in mir. Folgsam (wie sie mir durch das Anstupsen bedeutet hatte) streichelte ich das kühle, sich ständig kräuselnde, wogende 'Fell'. Wie sieht dein Plan aus, Gellert Grindelwald, Sohn von Vylanara und Naryc Grindelwald?, fragte die dunkle Magie mich. Ich seufzte, schob einen Arm hinter meinen Kopf, meine andere Hand kraulte immer noch die Katzengestalt. "Nun, in drei Tagen sind die Frühlingsferien vorbei. Dann werde ich nach Durmstrang zurückkehren. Dort werde ich wieder nach dem Elderstab suchen. Ich werde ihn finden. Und dann kann ich beginnen.", erklärte ich.
Soso., die dunkle Magie zuckte nachdenklich mit einem Ohr. Sobald du den Elderstab hast beginnst du also mit dem größeren Wohl. Was hast du unter diesem Leitspruch konkret vor? "Die Unterwerfung der Muggel. Was sonst?", gab ich zurück.
Die dunkle Magie schwieg.
Ich blinzelte und hob eine Augenbraue.
Grindelwald, Grindelwald. Du gefällst mir. Du gefällst mir wirklich. Die Muggel unterwerfen. Das ist... hochtrabend. Riskant. Aber es gefällt mir wirklich sehr gut. Unterwerfen... ist immer gut. Herrschen ist immer gut. Wenn du die Muggel wahrlich unterwerfen willst, hast du meine Unterstützung die nächsten Jahre sicher., sagte die dunkle Magie endlich. "Wirklich, Gebieterin? Sagt dir mein Plan derart zu?", hakte ich nach.
Vergiss nicht, die Katzengestalt schnurrte träge. Ich bin die dunkle Magie, Gellert. Ich will unterwerfen, ich will herrschen. Dein Plan gefällt mir wirklich sehr gut.
Unterwerfen? Herrschen? Da waren wir ja schon zwei, die das wollten.
"Ich danke dir. Ich werde die Muggel unterwerfen. Für Gina. Für das größere Wohl.", gelobte ich. Die dunkle Magie stand auf und drehte sich, ihre Vorderpfoten ruhten auf meinen Schlüsselbeinen, ihre leblosen, kalten Augen, wirbelnd wie ein endloser Hurrikan, waren direkt gegenüber von meinen.
Es gab so viele, die versprachen, die Muggel zu unterwerfen und der Magie endlich wieder an die Spitze zu verhelfen. Aber du bist einer der wenigen, in dem ich das nötige Potenzial, die nötige Macht und die nötige Arroganz sehe, um das zu tun.
Ich senkte das Kinn.
Arroganz.
Natürlich war ich arrogant. So schlimm mein Selbsthass manchmal auch sein mochte, so war mir doch bewusst, dass ich besonders war. Einzigartig. Außergewöhnlich. Und das nicht nur wegen meiner Augen."Du hast Recht, Gebieterin. Ich habe die Macht es zu tun und ich werde es auch tun. Desweiteren habe ich vor, Meister des Todes zu werden, indem ich die drei Heiligtümer des Todes vereine.", sagte ich. Die dunkle Magie musterte mich eindringlich, doch ich hielt ihrem Blick stand.
Deine Ziele sind höher als die vieler meiner Diener vor dir. Sie alle scheiterten über kurz oder lang. Doch du. Du bist anders. Denn meine vorherigen Diener kämpften aus reinem Hass gegen die Vorherrschaft der Unmagischen.
"Kämpfe ich denn nicht aus reinem Hass?", fragte ich erstaunt. Die Katzengestalt der dunklen Magie senkte den Kopf, ihre wogenden Umrisse berührten fast mein Gesicht, ihre Krallen gruben sich in meine Haut.
Du hasst sie., knurrte sie ruhig. Die Unmagischen. Du hasst sie so sehr. Aber der Ursprung deines Hasses ist nicht Hass oder Verachtung. Sondern Schmerz. Und das macht den Unterschied., sie verlagerte ihr Gewicht, streckte eine Pfote aus und presste sie über mein Herz. Glaube an dich, Gellert Grindelwald, Sohn von Vylanara und Naryc Grindelwald. Glaube an das größere Wohl. Glaube an dich. Denn ich tue es, mein Diener. Die Königin glaubt an ihre Untertanen.
Ehrerbietig senkte ich den Kopf. "Das ist wahrhaftig mehr, als ich von dir verlangt hätte, Gebieterin.", sagte ich und war damit auch ganz ehrlich. Die dunkle Magie grinste wieder ihr unnatürlich scharfzahniges Grinsen. Selbstverständlich., schnurrte sie seidenweich. Ihre Umrisse verloren innerhalb von Sekundenschnelle an Kontur und genauso schnell, wie sie gekommen war, war sie auch schon wieder verschwunden. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, ich ließ den Kopf nach hinten sinken und schloss die Augen. Der Kampf für das größere Wohl - für meine Rache - hatte begonnen. Und meine erste Verbündete war niemand anderes als die Schwarzmagie höchstpersönlich.

Ich hatte schon immer einen Hang zur Gefühlskontrolle gehabt. Na ja. Was hieß 'schon immer'. Soweit ich mich erinnerte. Irgendwo, in den Tiefen meines Gehirns, blitzte manchmal eine einsame Erinnerung an ferne Tage auf, in denen ich meine Gefühle noch nicht kontrolliert hatte, beziehungsweise damit angefangen hatte, es zu versuchen.
Morgen ging es nach Durmstrang zurück und ich war heilfroh darum. Endlich raus aus dieser Hölle, mal abgesehen davon, dass ich bald 16 wurde.
Gerade sortierte ich meine Bücher. Von 'zu oft gelesen' nach 'erst zehn Mal gelesen'. Nicht, dass ich eigentlich ein Stubenhocker war. Aber bei solch wunderbaren Eltern, wie ich sie nunmal hatte, reichte es eben schon, dass ich es wagte, wieder aus meinem Schlaf zu erwachen, um mich zur Strafe den Rest des Tages ins Zimmer zu sperren. Tja. Es war nicht das erste Mal und würde sicher auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Aber ich hatte gelernt, damit umzugehen und inzwischen mochte ich es sogar, wenn sie mich einsperrten. Denn dann konnten sie wenigstens nicht versuchen, mich umzubringen. So, wie gestern. Der brennende Schmerz in mir war irgendwie plötzlich nicht mehr da gewesen. Ich hatte ihn losgelassen und der Schmerz war ersetzt worden durch die eisige Kälte von Hass. Schmerzerfülltem Hass, hasserfüllten Schmerz. Was auch immer. Jedenfalls war es kalt. Kalt, kälter, ich. Kaltblütig. Was für ein schönes Wort, sinnierte ich und spielte nachdenklich mit einer alten Feder. Eigentlich wollte ich den Gedanken noch weiter spinnen, da fiel mir etwas ins Auge.
Ich erkannte es sofort.
Das Eis knackte gefährlich.
Ein Bild von Gina.
Ich legte das Buch, das ich gerade hatte umsortieren wollen, beiseite und zog vorsichtig das zusammengefaltete Blatt hervor. Die Farben hatten sich durchgedrückt, ich sah selbst von der Rückseite aus das leuchtende Grün und das dunkle Braun. Behutsam, als wäre das Bild ein Schrein, faltete ich es auf. Es zeigte Gina und mich und ein Eichhörnchen. Im Hintergrund ein Walnussbaum. Obwohl er durch Ginas kindliche Maltechnik verzerrt war, erkannte ich ihn. Nicht ein Walnussbaum. Der Walnussbaum, der eine. An dem vor ungefähr zwei Wochen das Unsägliche geschehen war. In meinem Herzen kämpften Hass und Trauer gegeneinander und schließlich gewann die Entschlossenheit. Zärtlich strich ich mit den Fingern über das Bild und ließ zu, dass sich eine einzelne Träne von meinen Wimpern löste und auf das Papier fiel. Meine zauberstablose Magie mochte noch nicht perfekt sein (ich hatte in den letzten zwei Wochen mehr zauberstablose Magie trainiert, als geschlafen), aber sie reichte aus, um die Nässe zu trocknen. Ich lehnte eine Hand an das Regal, sonst wäre ich vermutlich einfach zusammengebrochen. Nein. Diese Zeit war vorbei.
Ich hatte jetzt die Kontrolle.
Meine Rache hatte begonnen.
Jetzt, sagte ich mir, faltete das Bild zusammen und schob es wieder zwischen meine Bücher, war eine neue Zeit angebrochen. Zu dieser neuen Zeit zählte auch das, was ich jetzt tat: Ich zog ein Buch aus dem Regal, das den Titel "Die Magie und ihre Geheimnisse" trug. Dieses Buch war rein... rein weißmagisch. Zorn regte sich in mir und ich biss die Zähne aufeinander. Dann beschloss ich, einen neuen zauberstablosen Zauber auszuprobieren, den ich bisher erst einige Male geübt hatte. Ich schnippte mit den Fingern und das Buch ging in Flammen auf und zerfiel in meiner Hand zu grauer Asche, die lautlos zu Boden rieselte, wie dunkler Schnee.
An diesem letzten Tag der Frühlingsferien verbrannte ich jedes einzelne Buch, in dem weiße Magie vorkam. Jedes. Einzelne.
Das war ein praktischer Abschied, ebenso wie ein symbolischer.
Denn in genau diesem Moment, in dem das letzte der weißmagischen Bücher als Asche zu Boden fiel, wandte ich dem Licht den Rücken zu und verschwand in der Dunkelheit.

Loveless || Gellert Grindelwald FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt