7. Kapitel

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Dunkelheit umgab mich, während ich da lag, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Jeder Quadratzentimeter meiner Haut schmerzte. Heute hatten meine Eltern mal wieder ihren Spaß gehabt. Oh Wunder, sogar alle beide und nicht nur Vylanara. Gina wusste es. Ich hatte es ihr erzählt, weil sie natürlich gesehen hatte, dass Blutflecken auf unserem Wohnzimmerbofen waren. Meine Schwester hatte geweint. Natürlich. Oh Gina., dachte ich und ein bittersüßes Lächeln glitt über mein Gesicht. Wenn du wüsstest. Wenn sie wüsste. Heftig blinzelnd drehte ich mich auf die Seite und stand langsam auf. Schmerz gegen Schmerz. Und damit meinte ich nicht psychischen gegen physischen. Nein. Alter Schmerz gegen neuen. Neuer Schmerz gegen alten. Ja. Das meinte ich. Vorsichtig schlich ich zwei Schritte von meinem Bett weg, ans Fenster. Der Vollmond sandte sei silbernes Licht durch das Fenster und ich nutzte die Helligkeit, um meine neuen Wunden zu begutachten. Ja, doch... ordentlich, wie ich feststellte. Nicht tief genug für Narben, oh nein, so weit gingen meine lieben, fürsorglichen, tollen Eltern dann doch nicht. Keine Narben?
Mich schauderte es, ich kniete mich auf den Boden und lehnte den Kopf an die Wand. Keine. Narben. Die Schnitte würden keine Narben geben, die sichtbar waren. Unsichtbar würden die Spuren sein, die diese Schnitte hinterlassen würden, unsichtbare Spuren hatten die anderen Schnitte hinterlassen.
Lass nicht zu, dass sie dich brechen.
Keuchend atmete ich ein und presste eine Hand an meine Brust. Schmerz. Warum taten sie das? War ich so minderwertig, so wertlos? Was hatte ich ihnen getan? Nichts! Und doch hassten sie mich. Sie hassten mich, schlugen mich, benutzten Diffindo und Crucio und vermutlich würden sie mir irgendwann mit dem Todesfluch kommen. Aber warum?
Lass nicht zu, dass sie dich brechen.
Ich setzte mich anders hin, zog die Beine an und legte meine Stirn an meine Knie. Warum hatten sie überhaupt zugelassen, dass ich das Licht der Welt erblickte, wenn sie mich doch hassten? Ohne, dass ich es wollte, liefen heiße Tränen mein Gesicht hinab und ich biss mir zornig auf die Lippen. Zufrieden stellte ich fest, dass meine Tränen versiegten. Einen Moment lang gab ich mir noch, dann stand ich auf, drehte mich um, stützte mich mit beiden Armen auf die Fensterbank, legte den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. Sterne funkelten am samtblauen Himmel. Sterne. Sie funkelten wie Salzkristalle. Oder wie Tränen, die auf dunklen Stoff gefallen waren. Fröstelnd schlang ich die Arme um mich selbst und lehnte die Stirn an die eisige Fensterscheibe. Es war zwar nicht wirklich kalt, aber ich spürte die Kälte dennoch wie wachsende Eisblumen. Sekundenlang stand ich da, rang nach Atem und sah ausdruckslos zu, wie mein Atem an der Scheibe niederschlug. Mit drei schnellen Bewegungen zeichnete ich das Symbol der Heiligtümer an das beschlagene Fenster. Anschließend wandte ich mich vom Himmel und dem Fenster ab und kniete mich neben mein Bett, streckte einen Arm aus und kramte. Irgendwo musste es sein... Ich wusste doch ganz genau, dass ich es da hatte. Ha, ja. Da. Als meine Finger den Griff streiften, atmete ich triumphierend ein und zog es hervor. Es war nicht mal ein besonderes großes Messer, nur eine fünfzehn Zentimeter lange Klinge. Für einige Atemzüge kauerte ich reglos da, die eine Hand so fest um den Griff des Messers geschlossen, dass es schmerzte. Dann richtete ich mich langsam auf und schob genauso langsam meinen linken Ärmel zurück. Das Messer lag ruhig in meiner Hand, die Klinge glänzte leicht im Mondlicht. Auf meinem Arm prangten die neuen Schnitte, rot und gerade dabei, mit dem Heilen zu beginnen. Ohe mit der Wimper zu zucken zog ich mir die Klinge über den Arm. Ein scharfer Schmerz fuhr durch meine Nerven, Blut sickerte aus dem neuen Schnitt. In der Dunkelheit der Nacht war es eher schwarz als rot. Fast schon genüsslich sog ich die Luft ein und schnitt mich noch einmal. Quer über den ersten Schnitt. Wieder Schmerz, wieder Blut. Kurz verharrte ich, ließ dann das Messer sinken, schob es wieder unter mein Bett und stützte meine Ellenbogen auf meine Beine. Stille herrschte in Vacanović, nur mein Blut tropfte leise auf den Boden. Wachsam ließ ich mein Gespür nach den Auren meiner Eltern tasten. Nichts. Nur Schlaf. Sie waren nicht wach. Wunderbar. Ein leises Lächeln zuckte um meine Mundwinkel, ich ließ mein Gespür noch ein bisschen auseinanderfließen. Moment... Als mein Gespür sanft über Ginas Aura strich, zog ich die Augenbrauen zusammen.
Sie schlief.
Aber sie hatte einen Albtraum. Blitzschnell sprang ich auf und schlich nach draußen, mit allen Regeln der Kunst. Bis zu ihrem Zimmer. Genauso lautlos, wie ich hergekommen war, drückte ich die Klinke herunter und schloss sie leise wieder hinter mir. Vorsichtig trat ich neben Ginas Bett. Sie wimmerte leise im Schlaf und warf sich unruhig hin und her. "Gina.", wisperte ich, ließ mich nieder und strich ihr zärtlich mit einer Hand durch die blonden Locken. "Gina, shhhh. Wach auf." Behutsam wanderte ich zu ihrer Wange. Sie keuchte, dann riss sie abrupt die Augen auf. "Gellert?", flüsterte sie. "Gina.", erwiderte ich zärtlich. "Ich hab schlecht geträumt.", murmelte sie. "Ich weiß. Ich hab's gespürt, Gin. Deswegen bin ich gekommen." Ginas himmelblaue Augen weiteten sich, ich spürte ihre Bekümmerung. "Hab ich dich geweckt?" "Nein.", versicherte ich ihr sanft. Gina seufzte. Ich verlagerte mein Gewicht und zog sie sanft an mich. “Was hast du denn geträumt?”, fragte ich leise, senkt den Kopf und küsste sie zärtlich auf die Wange. Sie seufzte noch einmal. “Dass da so komische Menschen mir wehtun.”, murmelte sie. “Sie… Sie haben mich dir weggenommen und… komische Sachen gemacht und dann…”, sie zögerte, ihre eine Hand fuhr zu ihrem Hals “dann konnt ich plötzlich nicht mehr atmen.” “Du träumst seltsame Sachen, Gin.”, ich schluckte, die Liebe zu ihr schnürte mir die Kehle zu. “Ich werde niemals zulassen, dass dir etwas passiert.”, flüsterte ich erstickt. “Das schwöre ich dir, sowahr meine Augen zwei verschiedene Farben haben.” Meine Schwester blickte zu mir auf. “Okay.”, hauchte sie. “Wenn du das sagst, machst du es auch.” Ich lächelte. “Ich bin eine Supernova, Gin und du in meinem Licht. Niemand wird dich mir wegnehmen.” Langsam atmete Gina aus. “Ja.”, murmelte sie dann. “Ich glaub dir. Ich glaub dir alles, Gellert.” “Danke.”, flüsterte ich zurück und schmiegte meine Wange an ihre. “Glaubst du, du kannst jetzt schlafen?” Sie schüttelte den Kopf. “Ich muss nur blinzeln und… seh’s schon wieder vor mir.”, antwortete sie leise und schniefte. Nachdenklich biss ich mir auf die Unterlippe, versicherte mir mit meinem Gespür, dass zum einen die beiden neuen Schnitte nicht mehr bluteten (dem war so) und zum anderen Vylanara und Naryc immer noch schliefen (dem war ebenfalls so). Dann blickte meine Schwester an und sagte: “Soll ich da bleiben, Gin?” Mit glänzenden Augen sah sie mich an. “Würdest du?” “Klar.”, gab ich zurück. Vylanara und Naryc machen mich zwar einen Kopf kürzer, aber was soll’s., ergänzte ich stumm. Gina lächelte und rutschte zur Seite. Ich legte mich vor sie und drehte mich auf die andere Seite, um sie in den Arm nehmen zu können. Mein Gespür verriet mir, dass sie glücklich war, als sie sich an mich kuschelte. “Jetzt besser?”, flüsterte ich ihr ins Ohr. “Ja. Jetzt kann ich schlafen.” Ihre Stimme war müde. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich wehrte mich nicht gegen die Wärme, die in mir aufstieg. "Gellert?", flüsterte sie. "Ja?", flüsterte ich zurück. Sie seufzte und kuschelte sich dichter an mich. "Kannst du mir das Engelslied vorsingen?", fragte sie. Erneut lächelte ich und rollte mich auf den Rücken, damit ich besser ein- und ausatmen konnte. "Klar.", sagte ich leise und holte tief Luft, bevor ich begann. Tears of an angel war ihr Lieblingslied.

"Cover my eyes.
Cover my ears.
Tell me these words are a lie.
It can't be true.
That I'm losing you.
The sun cannot fall from the sky.

Can you hear heaven cry?
The tears of an angel.
The tears of an angel.
The tears of an angel.
The tears of an angel.

Stop every clock.
Stars are in shock.
The river would run to the sea.
I won't let you fly.
I won't say goodbye.
I won't let you slip away from me.

Can you hear heaven cry?
The tears of an angel.
The tears of an angel.
The tears of an angel.
The tears of an angel.

So hold on.
Be strong.
Everyday hope will grow.
I'm here, don't you fear.

Little one don't let go.
Don't let go.
Don't let go.

Cover my eyes.
Cover my ears.
Tell me these words are a lie."

Als ich geendet hatte, seufzte Gina tief. "Danke.", murmelte sie und ich drehte mich um, so dass sie ihre Stirn an meine Brust lehnen konnte. "Immer, Gina. Jederzeit wieder.", versprach ich ihr leise und zog sie enger an mich. Sie lächelte, ihre Atemzüge wurden ruhiger. Zärtlich betrachtete ich im Dunkeln ihr schlafendes Gesicht. So jung. So unschuldig. So süß.
Gina. Meine Schwester. Ich liebte sie so sehr. Und niemand würde sie mir wegnehmen.

Loveless || Gellert Grindelwald FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt