14. Kapitel

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Es hatte keinen Sinn. Alles. Alles, alles, alles. Es hatte keinen Sinn. Es hatte einfach keinen Sinn. Er war fort. Unauffindbar. Nicht in Sofia. Inzwischen war ich im Disapparieren so geübt geworden, dass ich nicht einmal mehr meinen Zauberstab dafür benutzen musste. Blinzelnd stand ich da, lehnte an einer Wand und kaute auf meinen Lippen. Überall war ich gewesen, hatte gesucht, gesucht, gesucht. Doch er war nicht da. Nirgends. Mein Elderstab. Mein erstes Heiligtum des Todes. Wo war er nur? Ich musste ihn doch finden... Ich musste doch. Ich musste, ich musste, ich musste! Tränen schossen mir in die Augen, heiß und brennend, ich krallte die Fingernägel in meine Handgelenke, dass es schmerzte. Dann brach das Eis, mühsam zückte ich meinen Zauberstab, disapparierte. Irgendwo hin. Der Ort, an dem ich wieder auftauchte, war... oh nein. Mein verfluchtes Unterbewusstsein. Vor mir stand ein Baum. Groß und stolz reckte er seine gewaltigen Äste in die Höhe, der Stamm war so dick, dass ich ihn nicht einmal ansatzweise umfassen konnte. Es war nicht irgendein Baum. Sondern ein Walnussbaum. Nicht irgendeiner, mal davon abgesehen, dass ich nur einen kannte. Es war der eine Walnussbaum. Hier war Gina gestorben. Gina... Schmerz krallte sich zwischen meine Rippen, ich fiel auf die Knie, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Sie hasste mich. Natürlich tat sie das. Ich hatte sie im Stich gelassen. Ich hatte... sie im... im Stich gelassen!

Sie funkelt mich an. Zornig. Hasserfüllt. "Du hättest mich retten können! Aber das hast du nicht! Du bist zu schwach! Zu untalentiert! Du bist ein Nichts. Wertlos. Ungewollt. Ungeliebt. Ich hasse dich, Gellert!

Nein! Zitternd riss ich den Kopf hoch. "Ungeliebt?", hauchte ich. "Ungeliebt? Ungeliebt?!" Eine Mischung aus wahnsinnigem Lachen und ersticktem Schluchzen schüttelte mich. Dann wechselte ich ins Englische. "Why do you think I'm loveless?! The ones who should have loved me, hate me! Does it really surprise you I cannot love?!" Keuchend nach Atem ringend krallte ich die Finger in die Rinde des Walnussbaums vor mir. "Warum wundert es euch, dass mein Herz Eis ist?", schluchzend lehnte ich die Stirn gegen den Baum. "Wie könnte es nicht?" Mein ganzer Körper bebte, ich kauerte mich zusammen. Alles war grau. Alles war kalt. Ich spürte nichts. Nichts außer meinem regelmäßigen Atem. Gina. Alles war verloren. Ohne sie. "Hass mich nicht!", flehte ich zitternd, obwohl sie mich natürlich nicht hörte. "Bitte, Gina. Hass mich doch nicht!" Meine Schluchzer wurden so heftig, dass meine Kehle vor Schmerz brannte. "Ich hab dich im Stich gelassen.", wisperte ich erstickt. Dann zuckte ich zusammen. Im Stich gelassen... Ich hatte Gina im Stich gelassen. Aber... Zitternd auf der Innenseite meiner Wange kauend, sog ich den Atem ein. Der Gedanke an Gina hatte das Eis um meine Seele gebrochen und nun... dachte ich an einen anderen. Bei Merlin! Was hatte ich nur getan?!

"Gellert... hilf mir."
"Warum sollte ich? Du bist nutzlos für mich, Jenneth Ivanov!"

Ich hatte ihn nicht geliebt. Nein. Aber dennoch... das hatte er nicht verdient gehabt. Was hatte ich nur getan? "Vergib mir.", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Gina.
Ich hatte sie im Stich gelassen. Verflucht sollte meine bloße Existenz sein! Bebend rang ich nach Atem, kämpfte um Luft. Schmerz, Schmerz, Schmerz. So unendlicher, brennender Schmerz. Ich biss mir so fest auf die Lippen, dass das Blut an ihnen hinablief und in das dichte Moos an den Wurzeln des Walnussbaums mit dunkelroten Tropfen sprenkelte. Vor meinen Augen drehte sich alles, die Welt schien zu schwanken. Oder schwankte sie wirklich? Natürlich tat sie das. Seit Ginas Tod war sie entwurzelt, losgerissen, nicht länger stabil. Das würde sie auch nie wieder sein. Denn Gina war mein Universum gewesen, mein Sirius. Aber dann war sie gestorben und jetzt... War das Universum bis in seine Grundfesten zerstört, nicht ein einziger Stein stand noch auf dem anderen. Alles war ein einziges Durcheinander, die zuvor geordneten Steine waren zersplittert und gebrochen. Irreparabel. Nicht wieder zusammenzufügen. Ich schluckte und krallte die Finger noch fester in meine Handgelenke. Es sollte schmerzen, aber ich spürte es nicht und das, obwohl ich mir die Nägel so tief in die Haut grub, dass das Blut sanft kitzelnd und warm an meinen Händen hinabrann. Atemlos senkte ich den Kopf. Ich spürte den Schmerz nicht. Ich spürte gar nichts. Der Schmerz, die Reue, alles... fort. Verflogen. Da war nichts mehr, kein einziges Gefühl. Nur Kälte. Sonst nichts. Die Welt schwankte immer noch. Das Universum bebte immer noch. Der Himmel splitterte. Und die Splitter fielen. Sie schlitzten meine Seele auf. Das erinnerte mich an etwas. Moment... Der Traum. Diesen Traum, den ich vor ungefähr vier Monaten geträumt hatte. In einer meiner letzten Tage in Durmstrang. Am ganzen Körper zitternd rang ich nach Atem, grub die Finger noch tiefer in meine Haut. Es sollte schmerzen. Tat es aber nicht. Nichts. Keuchend schloss ich die Augen. Der Boden zitterte, das Universum zitterte. Die Welt war zerrissen, entwurzelt, losgerissen, nicht länger stabil. Der Traum. Der Traum, der Traum, der Traum. Der Himmel war gesplittert, gefallen, zerbrochen und hatte meine Seele in Splitter zerfetzt. Da war nichts Ganzes mehr, keine... keinen... kein Zusammenhalt mehr. Keine vereinende Macht mehr.
Gina war tot.
"Verzeih mir.", wisperte ich. "Gina! Verzeih mir doch!" Würde sie? Könnte sie? Nein. Konnte, wurde... Nein. Nein, nein, nein, nein. Wie könnte sie? Ich hatte sie im Stich gelassen. Ich hatte sie sterben lassen. Ich hatte sie verraten. Ich hätte auf sie aufpassen sollen, ich hätte sie beschützen sollen. Vor allem und jedem. Hatte ich nicht. Ich hatte versagt. Schändlich versagt.

Du bist ein Nichts. Wertlos. Ungewollt. Ungeliebt.

Das hatte Gina gesagt. Gerade eben in dieser... ja, was? Eine Vision konnte es nicht gewesen sein. Was dann? Ein Traum - ein Albtraum? Eine Halluzination? Vielleicht beides. Wertlos. Ungewollt. Ungeliebt. Das war ich. Nichts anderes. Gina war tot. Meinetwegen. Jenneth war fast gestorben. Meinetwegen. Und jene, die mich lieben sollten, hassten mich. Meine Eltern. Sie hassten mich. So, wie ich sie hasste. Kein Wunder.
Wann hörte der Boden endlich auf, zu schwanken?
Wann hörte das Universum endlich auf, zu zittern?
Die Antwort war einfach. Nie. Denn es war nicht der Boden, der schwankte. Es war nicht das Universum, das zitterte. Es war meine Seele. Ich wusste es. Es würde keine Gnade mehr geben. Nicht für die Muggel. Ich brauchte den Elderstab. So schnell wie nur irgendwie möglich. Hm. Immer noch mit den Tränen kämpfend richtete ich mich auf und presste die Stirn gegen die Rinde des Walnussbaums. Heute war der 27. Mai des Jahres 1899. Irgendwo musste ich anfangen. Irgendwo. Nur wo? Wo war die Spur der Heiligtümer? Wo war die Spur des Elderstabes? Langsam stand ich auf. Die Kälte schloss wieder ihre eisigen Tore und ich atmete aus. "Es ist alles nur für dich, Gina.", flüsterte ich. Dann fasste ich einen Entschluss. Bevor ich auch nur anfing, mir Gedanken über meinen Plan bezüglich der Heiligtümer des Todes Gedanken zu machen, musste ich noch etwas anderes erledigen. Ein Grinsen schlich sich in meine Mundwinkel. Ich zückte meinen Zauberstab und apparierte. Nach Vacanović. Strahlend weiß, groß und erhaben lag es vor mir. Der gepflasterte Innenhof strahlte die Wärme der Spätfrühlingssonne zurück. Von Vylanara und Naryc war nichts zu sehen. Sicherheitshalber benutzte ich mein Gespür. Ah, sie waren oben, im zweiten Stockwerk. Gut, gut. Das, was ich vorhatte, würde nicht lange dauern. In den letzten Monaten hatte ich meine Fähigkeit, lautlos zu apparieren, perfektioniert. Darum würden sie von meiner Anwesenheit nichts mitbekommen. Entschlossen richtete ich meinen Zauberstab auf die Frontwand von Vacanović und ritzte mit meiner Magie folgende Worte ein, auf Englisch (meine Eltern sprachen diese Sprache beide fließend, es würde ihnen also keinerlei Probleme bereiten, meine Botschaft zu verstehen):
Violence and vengeance.
Dann verharrte ich zögernd. Etwas fehlte noch. Irgendwie. Nachdenklich kaute ich auf der Innenseite meiner Wange. Einen Moment später wurde es mir klar. Ein Lächeln zuckte um meine Lippen, ich benutzte abermals meine Magie und ritzte noch etwas unter die Botschaft. Das Heiligtümerzeichen. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich ihm noch etwas hinzufügte. Zwei G an den Seiten. Eines 'richtig' herum, eines spiegelverkehrt. GG. Meine Initialen. GG. Gellert Grindelwald. Anschließend disapparierte ich wieder. Zurück in den Wald. Denn er barg zwar grauenhafte Erinnerungen und ich musste meine gesamte Kälte aufbieten. Aber das Eis hielt. Wohin nun? Ich musste... Ich musste die Spur der Heiligtümer finden. Der Elderstab... vor allen anderen ihn. Wohin nun? Wo sollte ich hin? Es musste ein Ort sein, der mir in seinem Zweck half, die Heiligtümer zu finden. Wieder biss ich mir auf die Innenseite meiner Wange. Blinzelnd verengte ich die Augen. Sekunde. Moment. Moment, Moment, Moment. Ich hatte es. Ich wusste es. Ich war... genial. Warum war ich da nicht früher drauf gekommen? Denn dort war es doch! Das Grab des jüngsten der drei Brüder! Ignotus Peverall! Der mit dem Tarnumhang! Sein Grab war dort. In Großbritannien, in Schottland. Dort wohnte... meine Tante. Eine bedeutende Frau für Geschichte der Zauberei. Ja. Ich musste dorthin.
Nach Godric's Hollow.

Loveless || Gellert Grindelwald FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt