Sechs

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Die Musik von „One Kiss" von Dua Lipa ebbte allmählich ab, während Çağla und Edgar, lachend und voller Energie, von der Tanzfläche zurückkamen. Çağlas Augen funkelten vor Freude, und Edgar warf ihr einen liebevollen Blick zu, bevor er sich wieder zu uns an den Tisch setzte. Der Moment war gelöst, und die Spannung, die zuvor zwischen mir und Eser geherrscht hatte, schien sich in Luft aufgelöst zu haben. „Mann, das war klasse!" rief Çağla begeistert, während sie sich wieder neben Edgar niederließ und ihre Hand spielerisch auf seine Schulter legte. „Ich liebe dieses Lied!" Eser lehnte sich zurück, seine typische Selbstsicherheit kehrte zurück, doch ich konnte sehen, dass er sich noch nicht ganz von dem unterbrochenen Moment erholt hatte. „Nicht schlecht, Çağla," meinte er mit einem kleinen Lächeln, „aber du hast das Timing wirklich perfekt getroffen." Ich konnte nicht anders, als Çağla für ihre spontane Aktion dankbar zu sein. Dieser kurze Tanz auf der Tanzfläche hatte mich aus einer Situation befreit, die möglicherweise eine völlig andere Richtung eingeschlagen hätte. Edgar grinste breit und wandte sich an den Barbesitzer, der sich gerade an einem anderen Tisch um die Gäste kümmerte. „Hey, Osman! Hast du ein Kartenspiel da? Wir könnten eine Runde spielen!" Osman, ein freundlicher Kellner mit einem dichten Bart, nickte und zog ein abgenutztes Kartenspiel aus der Tasche seiner Weste hervor. „Natürlich, immer bereit!" sagte er lachend, während er das Deck auf unseren Tisch warf.„Perfekt!" rief Edgar aus, während er die Karten mischte. „Ich hoffe, du spielst Karten, Irem?" Ich schüttelte den Kopf und lächelte entschuldigend. „Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich schlecht darin. Ich habe nie wirklich gelernt, Karten zu spielen." „Keine Sorge," sagte Edgar beruhigend und zwinkerte mir zu. „Eser kann es dir bestimmt beibringen. Er ist ziemlich gut, wenn es um Kartenspiele geht." Eser grinste, offenbar erfreut über die Gelegenheit, mich ein wenig zu ärgern. „Keine Sorge, ich werde sanft mit dir umgehen," sagte er, während er sich näher zu mir lehnte, bereit, mir die Regeln zu erklären. Çağla und Edgar schauten uns beide amüsiert an, bevor wir mit dem Spiel begannen. Eser erklärte mir geduldig die Regeln, und obwohl ich anfangs skeptisch war, wurde ich bald in den Spaß hineingezogen. Das Spiel, das wir spielten, war einfach genug, um es schnell zu erlernen, aber auch spannend genug, um uns alle bei Laune zu halten. Lachen erfüllte den Raum, als wir uns gegenseitig spielerisch herausforderten und neckten. Ich war überrascht, wie schnell die anfängliche Anspannung zwischen mir und Eser verflogen war. Es war, als hätten die Karten das Eis zwischen uns gebrochen. Und je mehr wir spielten, desto mehr konnte ich die entspannte Seite von ihm sehen, die ich bisher kaum gekannt hatte. Während wir eine weitere Runde spielten, erzählte Edgar plötzlich eine Anekdote aus seiner Kindheit, die Eser betraf. „Wusstet ihr, dass Eser als Kind einmal versucht hat, ein komplettes Baumhaus alleine zu bauen? Er hat sich komplett überschätzt und wäre fast vom Baum gefallen, wenn ich ihn nicht gerade noch rechtzeitig erwischt hätte!" „Hey!" protestierte Eser, doch sein Lächeln zeigte, dass er sich genauso gut an die Situation erinnerte. „Und am Ende hast du auch mitgeholfen, das Baumhaus fertigzustellen." „Ja, aber nur weil du mich dazu gezwungen hast," erwiderte Edgar lachend. „Seitdem bin ich wohl offiziell sein Bauleiter." Çağla lachte herzhaft über die Geschichte, und ich konnte nicht anders, als mir die beiden als kleine Jungs vorzustellen, die zusammen die Welt erkunden. „Also kennt ihr euch wirklich schon ewig?" fragte ich neugierig. Edgar nickte stolz. „Ja, wir sind seit dem Kindergarten beste Freunde. Eser war immer derjenige mit den verrückten Ideen, und ich war derjenige, der ihn davor bewahren musste, sich umzubringen." „Halb wahr," korrigierte Eser mit einem Grinsen. „Aber Edgar hat recht – wir kennen uns schon ewig. Wir sind durch dick und dünn gegangen." Während Edgar und Eser über weitere Erinnerungen aus ihrer Kindheit sprachen, erfuhr ich, dass Edgar halb Türke war, was seine Verbindung zu Eser nur noch vertiefte. Sein Vater war Türke, seine Mutter Deutsche, und er hatte beide Kulturen in sich vereint, was ihn zu einer faszinierenden Persönlichkeit machte. Es war interessant, mehr über ihn und die Freundschaft, die ihn mit Eser verband, zu erfahren. „Ich hätte nie gedacht, dass du halb Türke bist," sagte ich überrascht. „Dein Name klingt so..." „Deutsch?" vollendete Edgar den Satz für mich und lachte. „Ja, das höre ich oft. Mein Vater hat darauf bestanden, dass ich einen deutschen Namen bekomme, weil meine Mutter ihn überredet hat. Aber innerlich bin ich ein echter Mischling." „Mischling?" wiederholte ich und lachte mit. „Das klingt irgendwie lustig, aber ich verstehe, was du meinst." Die Gespräche flossen mühelos, und ich fühlte mich immer mehr in die kleine Gruppe integriert. Die Atmosphäre war entspannt, und ich begann, mich wohler zu fühlen. Doch trotz der Leichtigkeit des Abends konnte ich nicht verhindern, dass eine Frage in meinem Kopf immer wieder aufploppte, etwas, das mich schon länger beschäftigte. Als wir gerade eine weitere Runde Karten spielten und Eser erneut gewann, konnte ich nicht anders, als Edgar direkt zu fragen: „Edgar, war Eser auch als Kind schon so..." Ich hielt kurz inne, suchte nach dem richtigen Wort. „Arrogant?" Sofort verstummte das Lachen, und die Atmosphäre veränderte sich schlagartig. Alle drei sahen mich überrascht an, und ich merkte, dass ich vielleicht einen wunden Punkt getroffen hatte. Edgar legte seine Karten ab und schaute mich neugierig an. „Wie kommst du darauf?" Ich zögerte, aber dann entschied ich, ehrlich zu sein. „Naja, um ehrlich zu sein, kenne ich Eser eigentlich flüchtig. Wir sind uns schon ein paar Mal begegnet, und er hat auf mich immer so... selbstsicher, manchmal sogar überheblich gewirkt." Eser hob eine Augenbraue und lehnte sich zurück, als würde er meine Worte abwägen. „Selbstsicher, hm?" fragte er und sein Blick war schwer zu deuten. „Und was genau bedeutet das für dich, Irem?" Ich biss mir leicht auf die Lippe, bevor ich antwortete. „Es bedeutet, dass du sehr überzeugt von dir selbst bist. Aber es kommt manchmal so rüber, als würdest du denken, dass niemand dir das Wasser reichen kann." Edgar lachte leise, doch es war kein spöttisches Lachen. „Das klingt wie der Eser, den ich kenne," sagte er und warf seinem Freund einen Seitenblick zu. „Aber ehrlich gesagt, war er schon immer so. Schon als Kind war Eser derjenige, der immer wusste, was er wollte, und der sich von niemandem etwas sagen ließ." Eser lächelte, aber es war ein Lächeln, das mehr verbarg, als es preisgab. „Vielleicht hast du recht, Irem," sagte er schließlich. „Aber was ist so falsch daran, selbstsicher zu sein? Ich glaube, es ist besser, zu wissen, was man will, als ständig zu zweifeln." Ich spürte, dass hinter seinen Worten mehr lag, etwas, das er nicht offen aussprechen wollte. Vielleicht war seine Arroganz – oder Selbstsicherheit, wie er es nannte – eine Fassade, die er aufrechterhielt, um sich selbst zu schützen. Aber das war nur eine Vermutung, und ich wusste, dass ich nicht genug über ihn wusste, um wirklich zu urteilen.„Vielleicht hast du recht," gab ich schließlich zu und versuchte, die Spannung zu lösen. „Aber manchmal könnte ein bisschen Bescheidenheit auch nicht schaden." Çağla, die das Gespräch still beobachtet hatte, mischte sich nun ein und grinste breit. „Ich glaube, Irem will nur sagen, dass du ein bisschen weicher sein könntest, Eser. Aber mach dir keine Sorgen – wir mögen dich trotzdem so, wie du bist." Das Lachen kehrte zurück, und die Atmosphäre lockerte sich wieder auf. Eser schüttelte den Kopf, aber ich konnte sehen, dass er das Gespräch nicht so schnell vergessen würde. Vielleicht hatte ich ihm etwas zu denken gegeben. Die restliche Zeit des Abends verbrachten wir mit weiteren Runden Karten und Gesprächen, in denen wir uns gegenseitig besser kennenlernten. Es war ein Abend voller Überraschungen, nicht nur wegen der unerwarteten Begegnung mit Eser, sondern auch, weil ich eine Seite von ihm und Edgar gesehen hatte, die ich nicht erwartet hätte. Als wir uns schließlich auf den Heimweg machten, fühlte ich mich seltsam erleichtert. Vielleicht war es nicht alles schlecht, was an diesem Abend passiert war. Vielleicht hatte ich ein wenig mehr über Eser erfahren – und vielleicht auch über mich selbst. Die Nachtluft war kühl und frisch, und während wir zum Auto gingen, konnte ich nicht anders, als ein kleines Lächeln auf meinen Lippen zu haben. Es war ein Abend, den ich so schnell nicht vergessen würde. Später, als ich endlich in meinem Bett lag, starrte ich an die Decke, während die Ereignisse des Abends in meinem Kopf wie ein Film abliefen. Die Dunkelheit des Zimmers umhüllte mich, und die Stille ließ mir keine andere Wahl, als mich meinen Gedanken zu stellen. Es war schwer zu fassen, was sich in der Bar abgespielt hatte. Der Raum war erfüllt gewesen von Musik, Lachen und Gesprächen, doch nun, in der Einsamkeit meines Zimmers, wirkte alles so unwirklich, fast wie ein Traum. Ich konnte kaum glauben, dass ich Eser so nah gewesen war – so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut gespürt hatte, dass seine Hand sanft meine Wange berührt hatte, und dass seine Lippen nur einen Hauch von meinen entfernt gewesen waren. Der Gedanke daran ließ mein Herz schneller schlagen, als ich mir vorstellte, was hätte passieren können. Was wäre gewesen, wenn Çağla nicht im letzten Moment unterbrochen hätte? Hätte ich wirklich zugelassen, dass er mich küsst? Und warum hatte ich überhaupt das Gefühl gehabt, dass es dazu kommen könnte? Ich drehte mich auf die Seite und zog die Decke fester um mich, als könnte sie mich vor den intensiven Gefühlen schützen, die dieser Abend in mir ausgelöst hatte. Eser, der selbstbewusste und oft arrogante Mann, den ich so oft verflucht hatte, hatte es geschafft, mich aus der Fassung zu bringen. Aber nicht nur das – er hatte auch einen Funken Neugier in mir geweckt, der mich nun nicht mehr losließ. Wie konnte es sein, dass ich trotz allem, was ich über ihn dachte, für einen Moment gewünscht hatte, dass seine Lippen tatsächlich meine berühren? Es war eine Frage, auf die ich keine Antwort wusste, und das beunruhigte mich mehr, als ich zugeben wollte. Ich seufzte tief und schloss die Augen, doch die Bilder des Abends tauchten immer wieder vor meinem inneren Auge auf – Eser, wie er mich ansah, wie er lachte, wie er die Karten mischte, wie er mich mit seinen Worten herausforderte. Es war, als ob dieser Abend mich in eine neue Richtung lenkte, eine Richtung, die ich vorher nie in Betracht gezogen hätte. „Es hätte fast zu einem Kuss kommen können," flüsterte ich leise zu mir selbst, während ich die Augen fest geschlossen hielt, als könnte ich so die Gedanken vertreiben. Doch es half nichts. Der Gedanke war da, und er würde nicht verschwinden. Ein Kuss mit Eser – das war eine Möglichkeit gewesen, die ich mir niemals hätte vorstellen können, und doch war sie heute Abend so real gewesen, dass sie mir nun keine Ruhe ließ. Ich atmete tief durch und zwang mich schließlich, an etwas anderes zu denken, doch es war sinnlos. Eser hatte sich tief in meine Gedanken eingenistet, und ich wusste, dass es nicht einfach sein würde, ihn dort wieder herauszubekommen. Vielleicht würde der Schlaf mir endlich die Ruhe bringen, die ich so dringend brauchte. Aber noch während ich mich in die Kissen kuschelte, wusste ich, dass dieser Abend und das, was beinahe passiert wäre, mich noch lange verfolgen würde. Und dass die Geschichte zwischen Eser und mir noch längst nicht zu Ende war.

Braune Augen [Irem ♥ Eser] *NEUE VERSION*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt