1. Kapitel

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Joe

Das alte Sakura Hotel ist vor Jahren Bankrott gegangen und steht seitdem leer. Verwahrlost und heruntergekommen, wenn man es genau nimmt.

Verrostete Metallgerüste sind an einer Seite des Gebäudes angebracht. Damals wollte man es mit einer Renovierung vor dem Ruin retten, doch die finanziellen Mittel kamen nie bei den Bauunternehmen an.

Ehrfürchtig bleibe ich vor der Treppe zum Eingang stehen, lasse meinen Blick die Stockwerke hoch schweifen. Die Fenster sind größtenteils scheibenlos oder mit Brettern zugenagelt. Ein fauler Geruch weht uns entgegen. Der Duft von Tod und...

„Ich kann Menschen riechen.", sage ich knapp und schreite die Treppe empor. Ein gutes Dutzend Stufen, die mir keine Mühe machen.

Die morsche Doppeltür des Hauses steht bereits halb geöffnet, bietet uns im Grunde hinein.

„Ich sollte den Anderen Bescheid geben.", murmelt Cas hinter mir und ich kann aus dem Augenwinkel erkennen, wie er sein Smartphone hervorholt. Eine kurze Textnachricht geht an die Kollegen meiner Einheit, was mich etwas weniger mulmig fühlen lässt.

Nicht, dass ich nicht mit der Situation zurechtgekommen wäre, in der ich mich mit meinem Kollegen befinde, aber die Jahrzehnte lange Erfahrung hat gezeigt, dass es immer gut ist, Rückendeckung zu haben.

Niemand sticht freiwillig unvorbereitet in ein Wespennest. Und das Nest sind definitiv eins.

„Du weißt, was du zu tun hast, Cas.", weise ich meinen Kollegen an, der sich ohne Umschweife verwandelt.

Seine menschliche Form krümmt sich zusammen. Ich kann Knochen knacken hören und sehe, wie dickes, struppiges Fell aus seiner Haut sprießt. Die lange Schnauze und die spitzen Ohren, sowie der flauschige Schwanz machen sein Bild erst vollständig.

Ahnend fletscht Cas die Zähne, legt die Ohren an und starrt in eine bestimmte Richtung.

„Natürlich sind sie im Keller.", stöhne ich genervt und verdrehe die Augen.

Cas sieht mich wissend an und knurrt leise. Man bekommt das Gefühl, der gesamte Eingangsbereich würde davon vibrieren. Das Einzige, was mich bei diesem großen Wolf an meinen Freund erinnert, sind seine Augen. Im Gegensatz zu seiner Bärenform behält er als Wolf seine leuchtend grünen Augen, die in der Dämmerung bedrohlich funkeln.

Es braucht einen Schritt und der Wolf steht in seiner vollen Größe neben mir. Bedacht lege ich meine Hand auf seinen Kopf und kraule ihn freundschaftlich hinterm Ohr. Dass dieses Tier fast die Größe eines Pferdes angenommen hat, ist nichts Neues für mich. Ich wertschätze diese Tierform an Cas sehr, würde sie sogar als meinen Favoriten bezeichnen.

In der wahren Welt wären wir Gegner gewesen. Wären wir uns begegnet, würde es zu einem Kampf um Leben und Tod gehen. Und es wäre erst vorbei, wenn einer stirbt.

Aber dies ist nicht die echte Welt. Seit Jahrhunderten können wir in der Welt der Menschen wandeln, ohne beachtet zu werden und seit wenigen Jahrzehnten ist unsere Existenz bekannt.

Unsere Offenlegung war ein Kulturschock für die Sterblichen und der Auftakt einer elendigen Hetzjagd. Die erste Zeit versuchten sie uns zu jagen, zu bekämpfen, zu töten, bis sie feststellen mussten, dass erstens: nicht jedes Monster ein solches ist und zweitens: wir wesentlich zivilisierter sind, als man uns vorwarf. Zumindest die meisten.

Viele verstecken sich bis heute noch vor der Menschheit und wollen nicht entdeckt werden. Wollen, dass ihre Existenz im Verborgenen bleibt, damit sie ihren Frieden im Geheimen finden.

Andere dagegen zelebrieren ihre Existenz regelrecht unter den Menschen. Vampire, Dschinns, Ghule, Geister, Dämonen und andere Wesen, die auf menschliche Nahrung zurückgreifen müssen, stellen sich in den Vordergrund und versuchen den Menschen näher zu kommen.

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