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Alastor ging am nächsten Tag nicht ins Hotel. Er hatte keine Lust Charlie wiederzusehen. Jetzt hasste sie ihn wahrscheinlich wieder.
Außerdem hatte Lucifer gesagt, er solle nicht mehr auf Abstand gehen. Wenn er ihn also sehen wollte, wäre Alastor gleich zur Stelle.  Außer er wollte, dass Alastor von selbst auf ihn zuging. Aber vielleicht wollte er auch einfach ein bisschen Raum für sich und das wäre zu aufdringlich. Unbewusst hatte Alastor angefangen in seinem Zimmer auf und ab zu tigern. Er wollte es nur richtig machen, so wie Lucifer es sich wünschte. Doch was genau wünschte Lucifer sich? Alastor hielt inne. Vielleicht könnte er versuchen sich zu erinnern, was er und Lucifer noch vor einigen Tagen gemacht hatten. Oder waren es Wochen? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Doch genau sagen, wie viele Tage es her war, dass er Liliths Bildnis zerstört hatte, konnte er nicht. Die letzte Zeit war zu einem wirren Matsch in seinem Gehirn geworden.
Auf jeden Fall hatten er und Lucifer zuvor Spaß gehabt. Wenn er es so anstellte wie beim letzten Mal, hätten sie vielleicht wieder eine schöne Zeit.
Alastor fiel wieder ein, dass er sich extra vorgenommen hatte nett zu sein. Und das er es als langweilig und stumpf empfunden hatte. Jetzt wünschte er sich er würde es nur immer wieder genauso hinbekommen. Es wäre doch das beste für sie beide, egal ob es langweilig war. Vielleicht war langweilig ja gerade das Beste. Zumindest besser als seine Blutlust.
Alastor tigerte weiter durch das Zimmer.
Also, er musste einfach nur ruhig bleiben und höflich mit Lucifer sprechen. Das sollte er hinbekommen. Nur nicht die Blutlust hervorkommen lassen. Das war schon schwieriger. Und er wusste immernoch nicht, was sie machen sollten. Aber beim letzten Mal hatte Lucifer auch eine Idee gehabt, was sie machen könnten. Vielleicht dieses Mal ja auch?
Alastor blieb wieder stehen. Brachte alle seine Gedanken zum Stillstand. Warum verfickt nochmal grübelte er jetzt so viel?
Der erste Abend im Anwesen kam ihm wieder in den Sinn. Er hatte sich vorgenommen die Kontrolle zu behalten. Das neuartige Gefühl zu unterdrücken. Und wo war er jetzt? Vollkommen panisch in seinem Zimmer, nur weil er vielleicht etwas mit Lucifer machen würde. Er hatte endgültig die Kontrolle verloren. Das Gefühl hatte ihn vollends eingenommen und es war zu spät für ihn sich dagegen zu wehren. Er wurde verrückt. Doch nicht sein altes, vertrautes verrückt. Ein unvorhersehbares verrückt, das er kein bisschen  zu verstehen vermochte.

Alastor klopfte. "Lucy?" Er trat ein und sah sich um. Lucifer war nicht in seinem Schlafzimmer. Alastor verließ den Raum wieder und machte sich auf zur Werkstatt. Wieder klopfte er und trat ein. "Lucy, bist du hier?" Niemand antwortete. Nur die Enten starrten ihn an. Irgendwie lösten sie Unwohlsein in ihm aus. Ihre Blicke verbrannten ihm zwar nicht mehr die Haut, aber doch schienen ihre leeren Augen ihm zu sagen, er solle verschwinden. "Scheißplastik" grummelte Alastor.
Wieder auf dem Flur fragte er sich, wo Lucifer sonst sein könnte. Vielleicht war er in dem großen Bad. Und wieder machte er sich auf den Weg. Mittlerweile kannte er sich einigermaßen aus in diesem riesigen Anwesen. Er wusste, wo er lang musste, wenn er zu Lucifers Schlafzimmer, der Werkstatt, der Küche, seinem Schlafzimmer und dem Bad wollte und lief nicht mehr auf gut Glück los. Was sich hinter den unzähligen Türen auf seinen Wegen verbarg vermochte er allerdings nicht zu sagen.
Am Badezimmer angekommen klopfte er erneut. "Lucy, bist du da drin? Darf ich reinkommen?" Alastor öffnete die Tür, doch wieder befand sich niemand in dem Raum. Langsam, aber sicher,  begannen Sorgen seine Gedanken zu verdüstern. Wo war Lucifer nur?
Alastor sah auch in der Küche nach. Wieder nichts. Panik machte sich in ihm breit.
Er lief durch die dunklen Flure und öffnete planlos Türen. Immer schneller hastete er von Tür zu Tür. Der Schweiß brach ihm aus. Nichts anderes als die Sorge um Lucifer fand Platz in seinen Gedanken. Bald schwirrte ihm die Kopf. Alles drehte sich in seinen Gedanken, er sah immer wieder nur leere Räume und das Anwesen schien endlos. Alastor keuchte. Was war passiert? Wurde Lucifer entführt? Hatte ihn jemand angegriffen?
Alastors Glieder wurden schwerer. Er wusste nicht, wie lange er schon durch diese endlosen Flure irrte. Es war schrecklich anstrengend immer weiter durch die Gänge zu rennen. Seine Bewegungen wurden mühsamer, langsamer, träger. Schon bald war er wieder im Schritttempo. Er wurde immer langsamer und die Panik drohte ihn zu überrollen. Er musste schneller sein. Lucifer retten. Er musste sich beeilen. Er riss die nächste Tür auf. Ein entspannt eingerichteter Raum lag vor ihm. In der Mitte des Zimmers standen mehrere Sofas und Sessel, alle mit Blick auf eine große Fensterwand. Draußen braute sich ein Unwetter zusammen. Dunkle Wolken verhängten den Himmel, was den Raum in dämmriges Licht tauchte. Alastor schloss die Tür wieder. Er sank zu Boden. Dann zuckte er zusammen und riss die Tür gleich wieder auf. Dort, in einem der Sessel saß Lucifer, schaute gedankenverloren hinaus. Er musste ziemlich tief in seinen Gedanken versunken sein, denn er bemerkte Alastor immernoch nicht.
Alastor seufzte erleichtert. Es ging ihm gut. Ihm war nichts passiert. Alles war gut. Er sank noch ein Mal zurück auf den Boden. Er nahm sich Zeit, um zu Atem zu kommen. Seine Gedanken drehten sich nicht mehr so schrecklich schnell und langsam erholte Alastor sich von dem Schreck. Im Nachhinein war es ihm peinlich, wie sehr er überreagiert hatte. Theoretisch hätte er Lucifer auch einfach zu sich teleportieren können. Er besaß ja schließlich seine Seele. Stattdessen war er durch das ganze Anwesen geirrt, wie ein Verrückter. Er schämte sich. Und er hasste auch dieses Gefühl.
Alastor richtete sich wieder auf. Dann betrat er mit langsamen, aber selbstbewussten Schritten den Raum, ignorierend, dass er sich gerade vor sich selbst zum Deppen gemacht hatte. Er blieb neben Lucifer stehen, der ihn erstaunlicher Weise immernoch nicht bemerkt hatte.
Kurz erlaubte Alastor sich in diesem Anblick zu versinken. Alles andere zu vergessen und nur seinen Lucy betrachten. Die blonden Haare, die golden leuchtenden Augen, diese niedlichen, kleinen Hände, gefaltet in seinem Schoß...
"Hallo, Lucy. Worüber denkst du denn nach?" Lucifer zuckte zusammen und starrte Alastor an. "Musstest du dich unbedingt an mich heranschleichen?" "Ich habe nicht beabsichtigt dich zu erschrecken. Ich war auch nicht außergewöhnlich leise." Alastor dachte an sein Gekeuche zurück. "Du schienst nur sehr in deinen Gedanken versunken. Also, woran hast du gedacht, Lucy?" "Nichts, was dich etwas angehen würde..." Alastor kniff leicht die Augen zusammen. Hatte nicht Lucifer gemeint sie sollten nett zueinander sein? Doch er sagte nichts. Er wollte sich an die Abmachung halten.
Den leichten Rotschimmer auf Lucifers Wangen bemerkte er nicht.
"Ich dachte, wir könnten vielleicht etwas zusammen machen. Hättest du Lust irgendetwas mit mir zu unternehmen, Lucy?" Alastor verfluchte seine Wortwahl. Es klang, als wäre er Lucifers Schoß Hündchen, dass alles für seinen Meister machen würde. Er wollte nicht wie so ein Schwächling klingen. "Jaa. Aber was würdest du denn gerne machen? Hast du irgendwelche Hobbies oder Interessen?" Alastor schaute Lucifer überrascht an. "Ich?" Er dachte nach. Es machte ihm Spaß andere verzweifeln zu sehen. Oder wahllos Sünder zu foltern. Es vergnügt ihn Schmerzensschreie zu hören. Blut fließen zu sehen. Auch wenn ihn das in letzter Zeit nicht wirklich befriedigt hatte. Aber nichts davon würde Lucifer gut heißen. Und nichts davon wäre etwas, was sie zusammen machen könnten.
Alastor dachte angestrengt nach. In der Hölle hatte er eigentlich nie etwas anderes getan, als die schon genannten Tätigkeiten.
Aber er wollte Lucifer unbedingt etwas antworten können. Er dachte an sein Leben zurück. Seine Radiosendung hatte ihm Spaß gemacht. War aber auch nichts, was sie zusammen machen könnten. Alastor zermarterte sich das Gehirn bis es ihm einfiel. Tanzen. Er hatte Tanzunterricht genommen. Er mochte es zu tanzen. "Es bereitet mir Freude zu tanzen." "Tanzen?" Lucifer sah ihn überrascht an. "Hätte ich nicht von dir erwartet. Bist du gut darin?" "Einigermaßen."meinte Alastor bescheiden. Er wusste, dass er ein sehr talentierter Tänzer war, aber das wollte er Lucifer nicht unter die Nase reiben. "Ich- ich kann nicht so wirklich tanzen." "Ich kann es dir beibringen. Wenn ich führe, musst du fast gar nichts machen. Du kannst dich einfach von mir leiten lassen." "Hmmm... Wenn du meinst." "Sollen wir hier tanzen oder willst du irgendwo anders hin?" "Ein paar Flure weiter ist ein geeigneter Raum, denke ich. Folg mir." Lucifer erhob sich und ging an Alastor vorbei zur Tür. Er folgte ihm durch die Flure und hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befanden. Er musste wirklich lange durch das Anwesen geirrt sein während seiner Panikattacke, denn die Gänge auf ihrem Weg kamen ihm kein bisschen bekannt vor. Soweit er das erkannte. Die Einrichtung war sich überall im Anwesen ziemlich ähnlich.
Lucifer öffnete eine Tür und sie betraten den Raum dahinter. Oder eher den Saal. Der Parkettboden erstreckte sich mindestens 15 Meter in jede Richtung. Von der Decke hing ein funkelnder Kronleuchter und in der Ecke stand ein riesiges Piano. "Wow. Wie viele Zimmer sind eigentlich in diesem Anwesen, Lucy?" "Hmmm, ich bin mir nicht sicher. Es waren, glaube ich, um die 150." Alastor versuchte unbeeindruckt zu wirken. So als hätte er nichts anderes erwartet. "Kannst du irgendwie Musik anmachen, Lucy?" "Klar." Lucifer schnippste mit den Fingern und das Klavier begann zu spielen. "Passt das? Oder soll ich ein anderes Musikstück abspielen?" "Nein, das ist perfekt. Komm her, Lucy." Als Lucifer vor ihm stand, nahm Alastor seine Hände und platzierte sie richtig. Und dann begannen sie zu tanzen. Alastor hatte sich für einen langsamen und simplen Tanz entschieden. Und erfreut stellte er fest, dass Lucifer seine Schritte nach ein paar Minuten schon äußerst präzise setzte. Er schien schnell zu lernen. Schon Jahrzehnte hatte er nicht mehr getanzt. Wilde Freude durchströmte ihn. Nach so vielen Jahren tanzte er endlich wieder. Und dann auch noch mit Lucifer. Er fühlte sich unglaublich.
Sie tanzten lange. Alastor konnte sich nicht erinnern, wann genau es passierte, aber mit der Zeit waren sie sich immer näher gekommen. Lucifer hatte die Augen geschlossen, versunken in der Musik. Alastor grinste. Er zog Lucifer vorsichtig noch ein Stück zu sich. Sie waren sich nun so nah, dass keine Hand mehr zwischen sie gepasst hätte. Dann schloss auch er die Augen. Er genoss das Gefühl, versank darin.
Er vergaß die Zeit.
Ein Knurren durchbrach die Musik. Alastor hielt verdutzt inne. Lucifer stand etwas versteift da. "Sorry. Ich glaub, ich hab ein bisschen Hunger." Alastor grinste. "Na, dann lass uns was zu Essen holen, Lucy." Sie verließen den Saal und wieder folgte Alastor Lucifer zur Küche, weil er keinen Plan hatte, in welche Richtung diese lag. Dort angekommen, fragte er Lucifer, was er denn essen wolle. Der zuckte mit den Schultern. Ich würde mir einfach eine Pizza machen. Willst du auch eine?" Alastor bejahte.
"Und was machen wir als nächstes?"fragte Alastor, als die Pizza im Ofen war. "Ich weiß nicht, ich bin ein bisschen müde. Können wir einfach einen Film anschauen?" "Wenn du das möchtest, gerne, Lucy." In Lucifers Augen trat ein aufgeregtes Glitzern. Er flitzte los, auf einen der Schränke zu. "Was ist denn, Lucy? Ist alles gut?"fragte Alastor verwirrt. "Jaja. Ich mach mir nur Popcorn. Ich liiiiieeeebeeee Popcorn."
Alastor konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als Lucifer wie ein kleines Kind vor der Mikrowelle bei jedem Plopp aufgeregt in die Luft hüpfte. Er schien geradezu fasziniert von dem Vorgang. Als er die Mikrowelle ausschaltete, wehte ihm heiße Luft entgegen. Lucifer wich zurück und kniff die Augen zusammen. Dann, ganz vorsichtig und mit Fingerspitzen, holte er die Tüte raus. Er öffnete sie und schüttelte das ganze Popcorn in eine Schüssel. Dann stöhnte er frustriert auf. "Es war zu lange drin, jetzt ist es ein bisschen angekokelt. Och manno!" Wieder musste Alastor schmunzeln.
Lucifer steckte sich trotzdem schon das erste Popcorn in den Mund. Er kaute konzentriert, bis er schließlich meinte:"Ist trotzdem essbar."

Nach gefühlten Ewigkeiten waren die Pizzen dann auch endlich fertig. Sie legten sie auf große Teller und Lucifer zeigte Alastor den Weg zu dem Zimmer, in dem sie den Film anschauen würden.
Im Zimmer angekommen, schaute Alastor sich um. Er hatte versucht sich den Weg zu merken, aber er hatte sich wieder hoffnungslos verirrt.
Als Alastor den Raum betrachtete, fiel ihm ein Riesenflachbildfernseher auf. Er wusste erst gar nicht, was passiert war, doch eine Sekunde später war der Bildschirm von einem seiner Schattenarme durchbohrt. Alastor verfluchte seine Reflexe. Wenn er einen Bildschirm oder etwas in die Richtung sah, neigte er zu ziemlich zerstörerischen Verhalten. "Oh, fuck! Sorry, ich wollte nicht deinen Fernseher zerstören, Lucy. Tut mir wirklich leid. Ich hoffe er war nicht allzu wichtig für dich. Aber hast du nicht vielleicht irgendwie eine Leinwand mit Beamer oder so? Ich bin nicht so erpicht einen Film auf einem Fernseher zu sehen." Lucifer starrte immernoch verblüfft auf den zerstörten Bildschirm vor sich. Etwas verspätet antwortete er: "Klar. Warte nur kurz." Er stellte die Schüssel Popcorn und seinen Teller mit der Pizza auf den niedrigen Tisch vor dem demolierten Fernseher und setzte sich auf das breite Sofa dahinter. Dann schnippste er mit beiden Händen und anstelle des Fernsehers befand sich nun eine Leinwand vor ihnen.
Alastor setzte sich neben Lucifer. "Und was schauen wir?" "Es gibt eine ziemlich berühmte Filmreihe in der Menschenwelt. Die ist aber erst nach deiner Zeit erschienen, deswegen kennst du sei wahrscheinlich nicht. Der erste Teil heißt Harry Potter und der Stein der Weisen. Ist das okay für dich?" Alastor fand das klang ziemlich langweilig, aber er wollte Lucifer nicht widersprechen, also nickte er.
Überraschenderweise machte es ihm sogar Spaß den Film mit Lucifer zu schauen. Das lag aber vor allem an dessen Kommentaren und nicht am Film.
Nach einer Weile waren die Pizzen und das Popcorn aufgegessen und eine behagliche Stille hatte sich zwischen den beiden ausgebreitet. Gegen Ende des Films spürte Alastor etwas Schweres an seinem Arm. Er schaut zur Seite und erkannte, dass Lucifer eingeschlafen war. Vorsichtig legte Alastor Luciferskopf in seinen Schoß und deckte ihn mit einer Decke, die auf der Lehne des Sofas lag, zu. Das Ende des Films verpasste er dann auch, weil er viel zu beschäftigt damit war Lucifers Gesicht zu betrachten.

Hazbin Hotel || RadioappleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt