Prolog

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Es gibt Erinnerungen, die nicht wirklich Erinnerungen sind, sondern eher Bruchstücke, flüchtige Schatten von etwas, das einmal gewesen sein könnte. Manchmal denke ich, ich erinnere mich an meine leiblichen Eltern – an das Lachen meiner Mutter oder an die rauen Hände meines Vaters. Aber dann bin ich mir doch wieder nicht sicher, ob diese Erinnerungen wirklich echt sind oder ob ich sie mir nur zusammenreime aus den Geschichten, die mir erzählt wurden. Geschichten, die Claire und Joseph mir in sanften, aber doch bestimmten Worten erzählt haben, als ich alt genug war, um die Wahrheit zu hören. Sie sagten, meine Eltern seien gestorben, als ich sechs Jahre alt war, und sie hätten mich aus Mitleid und christlicher Nächstenliebe adoptiert. Ich war zu jung, um das wirklich zu verstehen, und die Jahre haben die Lücken in meiner Erinnerung nicht gefüllt. Also nahm ich es so hin, als wäre es die einzige Wahrheit, die ich jemals kennen würde.

Chelsea in Michigan, war meine Heimat, auch wenn ich hier nicht geboren wurde. Die Stadt war klein, beschaulich, und das Leben verlief in geordneten Bahnen. Es gab eine vertraute Wärme in dieser Kleinstadt, die ich in meinen frühen Jahren als beruhigend empfand. Hier kannte jeder jeden. Ein Ort, an dem man niemals anonym blieb, selbst wenn man es manchmal wollte. Und die Menschen, die mich umgaben, waren freundlich, besorgt um mein Wohlergehen, immer bereit, ein Auge auf mich zu werfen, als wäre ich das Projekt der gesamten Stadt.

Joseph und Claire waren die Art von Eltern, die jedes Kind sich wünscht – oder vielleicht besser gesagt, die Eltern, die ich damals brauchte. Joseph ist Pastor in der örtlichen Kirche, ein Mann mit einem festen Glauben und einem sanften Lächeln, das selten verschwand. Claire unterstützte ihn, half bei den Gemeindeveranstaltungen, kümmerte sich um die Finanzen der Kirche und organisierte den wöchentlichen Gemeindekaffee. Sie war diejenige, die alles zusammenhielt, sowohl in der Kirche als auch in unserem Zuhause. Ihr Lächeln war wärmer, ihre Umarmungen enger. Sie beide hatten mich sofort ins Herz geschlossen, und ich spürte, dass sie sich wirklich um mich kümmerten. Doch Joseph war auch streng, wenn es um die Erziehung und den Glauben ging. Der Glaube war das Fundament unseres Hauses, und Joseph legte großen Wert darauf, dass ich diese Werte verinnerlichte.

Die Jahre vergingen, und mein Leben in Chelsea verlief in festen Bahnen. Ich ging zur Schule, arbeitete hart, schrieb gute Noten. Ich half in der Kirche aus, genau wie es von mir erwartet wurde. Ob ich es wollte oder nicht, war eine Frage, die ich mir lange Zeit nicht stellte. Bei den Stadtfesten stand ich oft hinter einem der Verkaufsstände, servierte Limonade oder Kuchen, während die älteren Damen der Gemeinde mich lobten, was für ein „gutes Mädchen" ich doch sei. Es war ein Leben in Routine, in dem die Tage in ihrer Beständigkeit ineinander übergingen.

Doch je älter ich wurde, desto stärker wuchs in mir das Gefühl, dass ich mehr wollte – mehr als dieses geordnete, kleine Leben in Chelsea, mehr als die Sicherheit und Vertrautheit, die ich seit meiner Kindheit kannte. Während die meisten meiner Freunde von der High School nach dem Abschluss in der Stadt blieben, um zu heiraten, Kinder zu bekommen oder in einem der örtlichen Geschäfte zu arbeiten, fühlte ich, dass mein Weg anders verlaufen würde. Schon früh interessierte ich mich für Politik. Das ewige Spiel von Macht und Einfluss, von Idealen und Realität, faszinierte mich. Ich wollte verstehen, wie die Welt funktionierte, wie Entscheidungen getroffen wurden, die das Leben so vieler Menschen beeinflussten. Und noch mehr wollte ich eines Tages Teil davon sein, nicht nur zusehen, sondern aktiv mitgestalten.

Meine Pläne, an der University of Michigan Politikwissenschaften zu studieren, waren für Joseph und Claire wie ein Schock. Es war, als hätte ich ihnen gesagt, dass ich vorhatte, ans Ende der Welt zu reisen und nie wieder zurückzukehren. Besonders Claire schien diese Nachricht schwer zu verkraften. Sie sprach sich immer wieder dagegen aus, fand unzählige Gründe, warum ich nicht studieren sollte. >>Warum ausgerechnet Seattle?<<, fragte sie. >>Was ist mit der Gemeinde? Wer wird helfen, wenn du nicht mehr hier bist?<< Ihre Gründe klangen logisch, doch tief in mir spürte ich, dass es mehr war. Es war nicht nur die Sorge um die Kirche oder um mich. Es war Angst. Angst davor, mich loszulassen.

Als ich schließlich ein Stipendium bekam, hatten sie keine Wahl mehr. Ich würde gehen. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Doch sie stellten Bedingungen: Ich solle jedes Wochenende nach Hause kommen und wir sollten jeden Tag miteinander telefonieren.
Ich stimmte zu, versicherte ihnen, dass ich mich daran halten würde. Aber tief in mir wusste ich, dass mein Leben sich von dem Moment an, als ich Chelsea verließ, unwiderruflich verändern würde.
Das Studium war intensiv. Während andere Studenten sich in das Collegeleben stürzten, Partys feierten und Verbindungen beitraten, verbrachte ich meine Zeit in der Bibliothek oder in Lerngruppen. Ich wollte nicht nur gut sein, ich wollte die Beste sein. Mein Ziel war es, eines Tages in Washington D.C. zu arbeiten, im Zentrum der Macht, dort, wo die wirklich wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Ich wollte meinen Platz finden und eine Rolle in der politischen Welt spielen, egal wie lange es dauern würde.

In der Zwischenzeit hatte ich mich bei verschiedenen Zeitungen beworben, um erste Erfahrungen zu sammeln. Als ich dann eine Einladung zu einem Zoom-Interview mit Richard Perkins, dem Chefredakteur des D.C. Prophet, erhielt, fühlte es sich an, als würde ein Traum in greifbare Nähe rücken. Das Gespräch verlief besser, als ich es mir erhofft hatte. Richard stellte mir Fragen über meine Ambitionen, meine Visionen für die Zukunft. Er schien beeindruckt, und am Ende des Gesprächs erwähnte er, dass er meine Kontaktdaten an einen befreundeten Politiker weitergeben würde. Er nannte keinen Namen und warnte mich, dass ich mich nicht zu sehr darauf verlassen sollte. Wochen vergingen, und ich wartete. Jeden Tag kontrollierte ich den Briefkasten, in der Hoffnung auf eine Nachricht. Doch es kam nichts. Die Enttäuschung begann zu nagen, und irgendwann hörte ich auf, zu hoffen.

Dann, eines Morgens, während ich mit Joseph am Frühstückstisch saß, platzte Claire aufgeregt in die Küche. In ihrer Hand hielt sie einen unscheinbaren Umschlag. Ihre Augen funkelten vor Aufregung und zugleich vor Angst. >>Ein Brief aus Seattle!<<, sagte sie, als ob diese Worte allein das ganze Universum verändern könnten. Josephs Gesicht verhärtete sich sofort, und ich sah, wie sich seine Miene verdunkelte. Er nahm ihr den Brief aus der Hand, seine Finger zitterten leicht. Ich verstand nicht, was so schlimm daran war. Es war doch nur ein Brief. Warum machten sie so einen Aufstand?

Ich fragte nach, doch sie ignorierten mich, sprachen in gedämpften, aufgeregten Stimmen miteinander. Schließlich entriss ich Joseph den Umschlag und sah den Absender. Das Büro des Bürgermeisters von Seattle. Mein Herz setzte für einen Moment aus. Der Brief, auf den ich so lange gewartet hatte, war endlich da. Ich begann zu begreifen, dass dies die Chance meines Lebens sein könnte.

>>Was ist das Problem?<<, fragte ich schließlich, verwirrt und frustriert über ihre Reaktion.

>>Das kannst du vergessen<<, sagte Joseph und schlug mit der Faust auf den Tisch. Claire stimmte ihm zu, ihre Stimme war eine Mischung aus Sorge und Panik. Sie wollten mich davon abhalten, den Brief zu lesen, aber es war zu spät. Ich riss den Umschlag auf und las die Einladung zu einem persönlichen Gespräch mit Bürgermeister Thomas Johnson.

Das war es. Meine Chance. Ein Jobangebot – oder zumindest die Möglichkeit, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Für mich stand sofort fest: Ich würde nach Seattle gehen, komme, was wolle.

Doch als ich aufblickte und das Entsetzen in den Augen meiner Adoptiveltern sah, wusste ich, dass dieser Brief mehr als nur eine Chance für meine Karriere bedeutete. Er bedeutete auch, dass sich etwas Grundlegendes in meinem Leben ändern würde – etwas, das weit über meine beruflichen Träume hinausging. Aber was es genau war, konnte ich in diesem Moment noch nicht sagen

Shattered Innocence  - Ich bin dein VerderbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt