Es war ein seltsames Gefühl, heute die letzten Kartons in mein Auto zu packen. Gestern erst hatte ich meinen Abschluss in Politikwissenschaften gefeiert – eine Feier, die gleichzeitig wie ein Höhepunkt und ein Abschied erschien. Alles, worauf ich jahrelang hingearbeitet hatte, lag nun hinter mir. Es war eine Erleichterung, aber gleichzeitig schwebte eine Unruhe in der Luft. Ein neuer Lebensabschnitt stand unmittelbar bevor.
>>Sophie, hast du wirklich alles eingepackt?<<, hörte ich Claire von der Küchentür aus fragen. Ihre Stimme klang wie immer – besorgt, sanft, aber auch irgendwie distanziert in den letzten Wochen. Sie stand da mit verschränkten Armen, den Blick auf die Kartons gerichtet, als ob sie hoffte, dass irgendein winziges Detail mich davon abhalten würde, diese Reise anzutreten.
>>Ja, alles Wichtige ist schon im Auto<<, antwortete ich, während ich den Deckel des letzten Kartons zuklappte. Es war der Karton mit meinen Büchern, eine kleine Auswahl, die mir in Seattle als Trostspender dienen sollte. Der Rest meiner Sachen würde mit einem Umzugsunternehmen nachgeschickt werden. Claire trat näher, zögerte kurz und begann dann, den Karton auf seine Stabilität zu prüfen, obwohl sie genau wusste, dass ich alles mehrfach überprüft hatte.
Die letzten Wochen waren ein Wirbelsturm an Ereignissen gewesen. Seitdem ich die Einladung vom Bürgermeister von Seattle erhalten hatte, ging alles Schlag auf Schlag. Ich hatte meinen Abschluss noch nicht einmal in der Tasche, als ich bereits nach Seattle geflogen war, um mich persönlich mit Bürgermeister Johnson, zu treffen. Das Bewerbungsgespräch war intensiver als erwartet. Sie hatten mir viele Fragen gestellt, wollten genau wissen, was meine Ziele waren, wie ich mich in das Team integrieren könnte und vor allem, wie ich die politische Landschaft der Stadt mitgestalten wollte. Am Ende des Gesprächs bekam ich die Zusage: ein bezahltes Praktikum im Büro des Bürgermeisters, mit Aussicht auf mehr, wenn ich mich bewährte.
Das bedeutete aber auch, dass ich alles, was ich mir bisher aufgebaut hatte, hinter mir lassen musste. Es war aufregend und erschreckend zugleich.
>>Joseph wollte mit dir reden, bevor du gehst<<, sagte Claire plötzlich, ihre Augen ruhten einen Moment länger als gewöhnlich auf meinem Gesicht. Es war diese Spannung in der Luft, die sich seit Wochen aufgebaut hatte. Seit der Einladung aus Seattle war die Stimmung zu Hause merklich gekippt. Es war nicht nur die Sorge, die ich von ihnen gewohnt war, wenn ich längere Zeit von zu Hause weg war. Nein, diesmal war es anders. Ihre Blicke – diese warnenden, fast ängstlichen Blicke, die sie sich zuwarfen, wenn ich über Seattle sprach, ließen mich immer wieder stutzen. Es fühlte sich an, als gäbe es ein Geheimnis, das sie nicht mit mir teilen wollten.
>>Okay<<, antwortete ich knapp, wusste aber schon, worauf das Gespräch hinauslaufen würde. Es war wie ein Déjà-vu. Seit Wochen redeten sie immer wieder auf mich ein, Seattle doch noch einmal zu überdenken. Dass es ,,so weit weg" sei, dass ich „doch hier gebraucht" würde. Doch zwischen den Zeilen spürte ich, dass es nicht nur um diese oberflächlichen Sorgen ging. Da war mehr, etwas, das sie mir nicht sagten. Doch ich war müde, ständig darüber zu spekulieren.
Ich folgte Claire ins Wohnzimmer, wo Joseph mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck auf dem Sofa saß. Sein Blick war auf die Bibel in seinen Händen gerichtet, aber ich wusste, dass seine Gedanken bei mir waren. Er hob den Kopf, als ich eintrat, und lächelte traurig.
>>Setz dich, Sophie<<, sagte er mit einer Stimme, die müde klang, fast resigniert.
Ich setzte mich auf den Sessel ihm gegenüber, spürte, wie sich meine Hände auf der Armlehne verkrampften. Es war nicht das erste Mal, dass wir dieses Gespräch führten, aber es fühlte sich an, als ob diesmal etwas endgültig wäre.
>>Wir haben lange über alles nachgedacht<<, begann er, ohne direkt auf mich zu schauen. >>Du weißt, dass wir nur das Beste für dich wollen.<<
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Shattered Innocence - Ich bin dein Verderben
RomantikSophie wuchs als kleines Mädchen in der beschaulichen Kleinstadt Chelsea, Michigan auf, nachdem sie von dem liebevollen Pastorenehepaar Claire und Joseph Mitchell adoptiert wurde. Ihr Leben war behütet, doch geprägt von strengen kirchlichen Werten...