Elena wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und richtete sich auf. Die Sommersonne brannte heiß über den Feldern, während die Dorfbewohner unermüdlich arbeiteten. Das Getreide musste rechtzeitig eingebracht werden, bevor der Herbstregen einsetzte. Seit Tagen hatten sie alle kaum Ruhe gefunden, die Ernte war das Lebensblut ihres Dorfes.
Ihr Blick wanderte zu den Hügeln am Horizont, wo in der Ferne das Schloss der Königin thront. Es war ein gewaltiger, finsterer Anblick, auch aus dieser Entfernung, und schien über alles und jeden zu wachen. Wie oft hatte sie sich in ihren Tagträumen ausgemalt, was sich hinter diesen hohen Mauern abspielte? Doch das Leben in ihrer kleinen Welt schien weit entfernt von den Intrigen und dem Glanz des Königshofes.
Elena selbst hatte nie darüber nachgedacht, dass ihr einfaches Leben je mit dem der Adeligen zusammenstoßen könnte. Sie war die älteste Tochter einer Bauernfamilie und hatte ihre Verantwortung fest im Griff. Ihre Hände waren rau von der harten Arbeit, ihre Kleider schlicht und funktional. Doch in ihren Träumen sehnte sie sich manchmal nach etwas Größerem. Irgendetwas, das sie aus dem ständigen Kreislauf des Alltags herausholte.
„Elena!“ Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken. „Komm her und hilf mir mit den Körben!“
„Ja, Mutter!“ Elena eilte zu ihr und packte mit an. Das Lächeln ihrer Mutter war erschöpft, aber dankbar. Es war ein hartes Leben, doch sie hatten sich immer durchgeschlagen. Ihr Vater war oft krank, weshalb viel Verantwortung auf Elena und ihren jüngeren Geschwistern lastete.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, als ein lautes Geräusch den Frieden des Dorfes durchbrach. Pferdehufe schlugen auf die ausgetrocknete Erde, gefolgt von schweren Schritten. Elenas Herz setzte einen Moment aus, als sie die Soldaten in ihren glänzenden Rüstungen sah. Sie hatten es schon lange erwartet, doch die Ankunft der königlichen Truppen war immer mit Unbehagen verbunden.
„Was wollen die hier?“ murmelte einer der Bauern hinter ihr.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ein Mann, offenbar der Anführer der Truppe, stieg von seinem Pferd und sah sich mit strengem Blick um. „Im Namen von Königin Isabella fordern wir jeden Jungen und jedes Mädchen ab sechzehn Jahren auf, sich morgen früh am Dorfplatz einzufinden. Sie werden zum Schloss gebracht, um der Krone zu dienen.“
Elena spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust schneller schlug. Das war es, wovon ihre Mutter immer gewarnt hatte. Die Königin brauchte ständig neue Diener, Arbeiter und Untergebene für ihre unzähligen Aufgaben am Hof. Und nun war es soweit. Das Dorf würde seine Jugend verlieren, und niemand wusste, ob sie je wieder zurückkehren würden.
„Warum jetzt?“ flüsterte Elena, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem.
„Es ist die Pflicht eines jeden Bürgers“, sagte der Soldat mit kalter Stimme, als hätte er ihre Frage gehört. „Die Königin hat gesprochen.“
Elena konnte die angespannte Stille um sich herum spüren. Niemand wagte, sich gegen den Befehl zu stellen, nicht einmal ihre Mutter, die sie besorgt anblickte. Am nächsten Morgen würde auch sie ihre Familie verlassen müssen.
Die Nacht zog sich wie zäher Honig. Elena konnte kaum schlafen, als sie im Bett lag, die dünne Decke über sich gezogen. Das Rascheln der Blätter im Wind und das entfernte Geräusch der Tiere des Dorfes beruhigten sie normalerweise, doch heute fand sie keinen Frieden. Immer wieder tauchten Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Das Schloss. Die Königin. Die unbekannte Welt, in die sie morgen aufbrechen würde.
Ihre Mutter hatte sich mit einem leisen Seufzen zu Bett gelegt, nachdem sie versucht hatte, Elena mit einem schwachen Lächeln zu beruhigen. „Alles wird gut, Elena. Es ist vielleicht nicht für immer.“ Doch sie beide wussten, dass dies kaum mehr als leere Worte waren.
Elena stand schließlich auf und schlich sich nach draußen. Der Mond hing groß und silbrig über dem nächtlichen Himmel, und die Welt lag still unter seinem Licht. Sie trat barfuß über die Wiese, das Gras war kühl und feucht unter ihren Füßen. Der Gedanke, alles hier zu verlassen, machte sie nervös. Aber zugleich war da auch ein seltsames Kribbeln – eine Vorahnung, dass sich ihr Leben bald verändern würde.
Der nächste Morgen kam schneller, als sie es sich gewünscht hätte. Der Dorfplatz füllte sich, während die Jugendlichen, alle in ihrem Alter oder älter, zusammenkamen. Eltern verabschiedeten sich mit Tränen in den Augen, einige waren stumm vor Sorge. Elenas Mutter umarmte sie fest, bevor sie losließ. „Pass auf dich auf, mein Mädchen.“
Elena nickte stumm, unfähig, etwas zu sagen. Dann stellte sie sich in die Reihe der anderen, und die Soldaten führten sie zum Schloss.
Die Fahrt zum Schloss war länger, als Elena es erwartet hatte. Die Pferde zogen den Karren über staubige Straßen, durch Wälder und an Seen vorbei. Sie hatte immer nur Geschichten über das Schloss gehört, doch als sie die Mauern schließlich vor sich auftauchen sah, stockte ihr der Atem. Es war ein imposantes Bauwerk, aus grauem Stein gehauen, und die Türme ragten hoch in den Himmel. Die Burg sah so unnahbar und gewaltig aus, dass sie sich kleiner und kleiner fühlte, je näher sie kamen.
Als sie schließlich ankamen, öffneten die Soldaten die großen Tore, und die Neuankömmlinge wurden angewiesen, sich in einer Reihe aufzustellen. Der Hof war riesig, mit Statuen und Springbrunnen, die wie Kunstwerke aus Marmor aussahen. Elena hatte noch nie etwas so Prunkvolles gesehen.
„Willkommen im Schloss von Königin Isabella“, verkündete ein Mann in feinen Gewändern, der offenbar für die Ankunft der neuen Diener verantwortlich war. „Von heute an gehört ihr dem Hof an. Ihr werdet lernen, zu dienen und zu gehorchen. Jedes Vergehen wird streng bestraft, und jede Aufgabe wird mit Disziplin und Gehorsam ausgeführt.“
Elena spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Magen bildete. Das hier war also ihre neue Realität. Ein Leben im Dienst der Krone, fernab von der Freiheit, die sie im Dorf gekannt hatte.
In den nächsten Tagen lernte Elena das Schloss und seine endlosen Gänge, Zimmer und Säle kennen. Ihre Aufgaben waren einfach: sauber machen, Wäsche waschen, Wasser tragen. Es gab keine Zeit, um die atemberaubende Architektur oder die wertvollen Gemälde und Teppiche zu bewundern, die das Schloss schmückten. Alles, worauf es ankam, war die Arbeit.
Doch immer wieder erwischte sie sich dabei, dass ihre Gedanken zu der Frau wanderten, die über all das herrschte. Königin Isabella, deren Ruf sie so oft gehört hatte, aber die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Die Königin war eine Legende in diesem Land – schön, aber kalt wie Eis. Man sagte, sie ließ niemanden an sich heran, zeigte keine Emotionen. Doch Elena fragte sich, ob das wirklich alles war.
Was für eine Frau war Königin Isabella wirklich?