22.// Die Erinnerung an glückliche Tage

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Nun erkannte ich den vermeintlichen Engel. Er sah Eluréd ziemlich ähnlich, doch er war es nicht. Es war Legolas.


"Ithil?", fragte Legolas erneut. Ich war wie erstarrt. Tränen liefen über meine Wangen und ich verspürte keine Wärme mehr. Da war nur Kälte, unendliche Kälte. Ich sah nichts mehr in diesem Leben, nichts was sich lohnte. Ich sah nur noch all die Finsternis und das Grauen, die Kriege und den Tod zahlreicher Unschuldigen. 

„Ithil, nun sag doch was!" Legolas rüttelte an meinen Schultern. Mein Blick streifte den seinen. Ich sah in seinen blauen Augen, die so unglaublich blau waren, dass ich dachte, sie würden mich verschlingen. Ich erkannte Angst, Trauer und Besorgnis darin. Er war besorgt – um mich. Ich riss mich aus seinem Griff, ich konnte die Sorge und vor allem das Mitleid nicht länger ertragen. Meine Seele schmerzte. Legolas sah Eluréd einfach zu ähnlich! Ich raffte mein Kleid, lief zur Tür und – stieß mit Aragorn zusammen. 

„Ithil!", rief dieser überrascht, doch ich drängte mich an ihm vorbei. Ich hörte, wie Legolas mir etwas hinterherrief, doch ich ignorierte es und rannte weiter. Weiter, bis zum Ende des Ganges. Mir war egal, dass ich noch nicht aufstehen durfte, mir war im Moment einfach alles egal. Ich wollte nur weg von hier. Weg von Legolas, der Eluréd so ähnlich war und weg von diesem verfluchten Ort, wo ich erfahren hatte, welches mein Schicksal war. Ich lief durch die Bäume, war blind vor Tränen, sodass ich den Weg nicht erkannte. Doch auch das war mir egal. Hauptsache, ich war weg von diesem Ort, weg aus dieser Zeit.

Ich lief lange, solange, bis mich meine Beine nicht mehr trugen und ich neben einem Baum zu Boden sank. Ich weinte immer noch, trauerte um meinen Bruder, dem einzigen Elben, dem ich je vertraut hatte. Er war alles gewesen, dass ich hatte. Er hatte mir alles bedeutet. Und ... er war meinetwegen gestorben. Sein Tod war meine Schuld. Ein Schluchzer entrann sich meiner Kehle, ein Schrei unendlich tiefen Schmerzes, als ich an die glücklichen Zeiten zurückdachte.

„Ery, wo bist du?" Ein etwa tausendjähriger Eluréd, also ein kleiner Junge, der in menschlichen Augen nicht älter als zehn wirkte, lief durch den Wald, sich immer wieder zu beiden Seiten umblickend. Ich versteckte mich hoch oben in der Krone eines dichten Laubbaumes. „Ery!" Ich musste lachen. Es war ein lautes Lachen, das wie flüssiger Regen klang. „Ery, hab ich dich!" Triumphierend hielt Eluréd vor dem Baum inne und sah zu mir hoch. Ich lachte immer noch. Über sein Gesicht huschte ebenfalls ein Lächeln und er begann, zu mir hinaufzuklettern. 

„Hol mich doch!", provozierte ich ihn, während ich höher kletterte. Ich war kleiner und schmaler als er, was mir erlaubte, auf den dünnsten Zweigen umherzulaufen. Elegant schwang ich mich nach oben und machte dabei den Fehler, nach unten zu schauen. Sofort versteifte sich mein ganzer Körper. Als ich dann auch noch mit den Füßen abrutschte und mich nur noch mit einer Hand festhielt, war mein Körper vor Angst gelähmt. 

Ich zitterte, hörte Eluréd wie aus weiter Ferne rufen: „Eryniel, ich bin bald bei dir! Halte durch!" Doch ich konnte nicht länger durchhalten. Meine Hand war so schweißnass, dass sie vom Stamm abrutschte. Ein gellender Schrei verließ meine Kehle, als ich rücklinks vom Baum fiel. Ich schloss die Augen, machte mich bereit aufzuprallen und – nichts passierte. Langsam öffnete ich meine Augen wieder, der Schrei war verstummt. Eluréd hatte mich gerade noch rechtzeitig am Arm gepackt. 

„Bitte mach so etwas nicht noch mal, Ery.", sagte Eluréd, ganz der große Bruder. „Ganz bestimmt nicht!", murmelte ich. Den Abstieg gingen wir nun deutlich langsamer an. Eluréd blickte mehr als einmal zu mir hinunter, als befürchtete er, ich würde noch einmal abstürzen. Doch ich hatte meine Lektion gelernt.

Als wir wieder sicher auf dem Boden standen, schaute ich El tief in die Augen. „Tut mir leid, El. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machen musst ..." beschämt senkte ich den Blick. 

„Ach, Ery, es ist ja alles noch einmal gut ausgegangen" „Trotzdem!" „Ich hab dich auch lieb, Eryniel!", meinte er lachend. Überrascht schrie ich auf, als er sich auf mich stürzte und mich kräftig durchkitzelte. 

„Hör auf, Eluréd!", keuchte ich irgendwann nur noch. „Erst wenn du mir sagst, wie lieb du mich hast!", entgegnete El und kitzelte mich weiter. „Schon gut, El, ich hab dich auch lieb!", sagte ich, nachdem er mir eine kurze Pause gegönnt hatte. 

„Wer als Erstes im Lager ist!", brüllte ich, nachdem ich aufgestanden war und bereits rannte. „Du gemeine ...", lachte Eluréd, bevor er mir folgte. Wir rannten einen Hügel hinauf und dort hielt ich inne. Der Anblick war atemberaubend. Vor uns lag der alte Wald. Er lag an der nordwestlichen Grenze zum Auenland und verströmte stets einen angenehmen Ruf. Die Sonne ging gerade unter und warf ihre letzten Strahlen auf den Wald, der dadurch in allen Grün- und Goldtönen schimmerte. 

Ein paar der Strahlen fielen auch auf unsere Haare und ließen sie noch goldener erscheinen, als sie ohnehin schon waren. Hätte uns ein Hobbit gesehen, hätte er bestimmt geglaubt, wir wären zwei Engel, aus dem Himmel hinabgestiegen, um Gutes in der Welt zu schaffen. 

Auch Eluréd blieb stehen und genoss einen Augenblick das wunderschöne Bild, das sich uns bot, dann lief er weiter. Schnell rannte ich ihm hinterher und wusste, dass sich diese Erinnerung soeben in meinen Kopf eingebrannt hatte. 

(Das oben auf dem Bild ist übrigens Eluréd.)

Und weil es gerade sooo spannend ist, kommt gleich noch ein Teil^^

Túre í maranwe - Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt