3| Was mir das Zimmermädchen erzählte

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Wenn ich eins meinen Bruder verdanken kann, dann ist es die Zimmeraufteilung in Italien. Seit mehr als zwei Jahren hatte er durchgesetzt, dass wir Kinder alle ein Einzelzimmer bekamen. Früher musste ich mir mein Zimmer mit Annie teilen. Und glaubt mir, das will niemand.

So schleife ich also meinen Koffer in mein Zimmer, welches dieses Jahr im zweiten Stock lag. Meine restliche Familie lebt ein Stockwerk unter mir. Ich bezweifel, dass das reiner Zufall ist. Wahrscheinlich möchte meine Mutter, dass ich nicht sofort in Verbindung mit der ach so tollen Familie Becker gebracht werde.

Wieder habe ich ein Zimmer mit Blick auf die Fußgängerzone in Jesolo erwischt. Meine Eltern geben immer mit an, ein Zimmer mit Meerblick haben zu wollen. Ihnen ist die andere Seite des Hotels zu laut. Zu lebendig würde es wohl eher treffen. Meine Eltern wollen im Urlaub ihre Ruhe. Ich bin froh, wenn ich wenigstens im Urlaub ein wenig Leben zu haben.

Ein Klopfen an der Tür schreckt mich aus den Gedanken. Verwundert laufe ich zur Tür. Wer möchte den zu mir? Meine Familie wohl eher nicht. Ich glaube, ich kann froh sein, wenn sie mir eine Nachricht schreiben, wenn etwas ist.

Ich öffne die Tür. Ein Zimmermädchen steht vor mir. Für einen kurzen Moment starrt sie auf meine Haare. Dann fängt sie sich wieder und plappert auf Italienisch los. Total verdattert hebe ich die Hände und sage auf Englisch: „Hey, hey, hey! Ich spreche kein Italienisch. Leider."

Das Zimmermädchen hebt die Hand vor den Mund und nuschelt „Sorry". Sie ist noch sehr jung, ich würde sie auf mein Alter schätzen.

Auf Englisch erklärt sie mir, dass auf dieser Etage ein anderer WLAN-Router steht und das es hier ein anderes Passwort gibt. Sie überreicht mir ein einen Zettel, auf welchen die Nummerfolge steht. Ich bedanke mich bei ihr und möchte gerade die Tür schließen, als sie mich noch etwas fragt: „Bist du die Tochter vom Magdalena und Wolfgang Becker?"

Überrascht drehe ich mich um und antworte ihr auf Englisch „Jaaa?" Wie seltsam es klingt, wenn jemand die Vornamen meiner Eltern mit italienischen Akzent ausspricht. Das Mädchen sieht mich entschuldigend an und schaut auf ihre Füße.

„Was willst du?" frage ich sie direkt. Unsicher verlagert sie das Gewicht von einem Bein auf das andere. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und warte. Das Mädchen fährt sich mit der Hand durch die Haare und holt tief Luft.

„Also Andrea hat mir erzählt, dass er für das Ehepaar Becker die Koffer in ihre Zimmer tragen musste. Und die haben sich auf Deutsch unterhalten. Andrea versteht aber Deutsch, weshalb er das Gespräch, ähm... Unabsichtlich mitgehört hat. Es ging um dich."

Das ist ja interessant. Ich öffne die Tür noch ein Stück und bete sie herein. Verunsichert tritt sie in das Zimmer. Ich biete ihr einen Platz am Tisch an, welchen sie ablehnt. So steht sie mitten im Zimmer vor mir.

„Sprich weiter" fordere ich sie auf. Verlegen fummelt sie an ihrer Schürze und sagt dann: „Aber sie dürfen niemanden erzählen, dass sie es von mir wissen, ok?" Ich nicke. Man, muss die mich so auf die Folter spannen? Ich bin extrem neugierig, kann man da keine Rücksicht nehmen?

„Also. Deine Eltern haben besprochen, dass du nach dem Urlaub zu deiner Tante auf den Bauernhof ziehen sollst. Dort soll sie dir die Rotten austreiben. Aber das Schlimmste kommt noch. Dein Vater meinte auch, es notfalls mit Gewalt zu versuchen. Du wärst so verstockt, da käme man mit Gewalt am besten. Und deine Haare wollen sie dir als Lehre abschneiden. Mit dieser unchristlichen Farbe würde man zu nichts im Leben kommen."

Mit diesen Worten drehte sich das Mädchen um und lief zur Tür. Ich konnte ihr gerade noch so ein „Danke!" hinterherrufen, doch ich glaube nicht, dass sie das noch gehört hat.

Mit einer flinken Bewegung ziehe ich mir meinen Pullover über den Kopf. Nur im BH und Jeans lege ich mich auf das Bett. Das haben meine Eltern also mit mir vor. Das sie früher oder später auf Tante Sophia kommen würden, war mir klar.

Tante Sophia war eine verbitterte alte Frau, welche irgendwo in Bayern einen kleinen Bauernhof betreibt. Dort züchtet sie Pferde. Tante Sophia ist im ganzen Ort für ihre harte Hand bekannt. Eigene Kinder hat sie keine, ihr Mann ist sehr früh verstorben.

Auf diesen Bauernhof wollen sie mich also schicken. Auch die Gewaltandrohungen waren mir nicht unbekannt. Bis Annie fünf Jahre alt war hat mich mein Vater öfters geschlagen. Ich war ihm zu verstockt, zu still, zu anders. Das machte meinen Vater Angst.

Lange grübelte ich über diese Nachricht nach. Was sollte ich tun? Meinen Eltern erzählen, dass ich von ihren Plänen wusste? Nein, dann wäre der arme Andrea und das Zimmermädchen dran. Mich fügen? Auf gar keinen Fall. Als ich mir zum ersten Mal die Haare färbte, hab ich mir geschworen, niemals unfaire Entscheidungen meiner Eltern anzunehmen. Niemals.

Ich sah auf den Wecker, welcher auf meinem Nachttisch neben dem Bett stand. 20 Uhr. Von meiner Familie war heute nichts mehr zu erwarten. Zögernd griff ich zu meinem Handy, welches am Ladekabel neben dem Bett hing.

Aus der Pullovertasche zog ich den Zettel mit dem WLAN-Passwort. Ein paar Minuten später war mein Handy mit dem WLAN verbunden und ein paar Nachrichten kündigten sich mit einem Klingeln an. Unter anderem von meiner Schwester.

Welches Zimmer hast du? Schreib mir mal die Nummer!

Na das konnte sie aber so was von vergessen. Umso besser, wenn meine Familie nicht genau wusste, wo ich bin. Ein wenig lustlos rappel ich mich auf und laufe zu meinem Koffer.

Es dauert einen ganzen Moment, bis ich die einzige kurze Hose finde. Eine abgeschnittene Jeans. Die ziehe ich mir über und krame nach einem T-shirt. Ein schwarzes fällt mir in die Hände. Ich mustere kurz die Band, welche aufgedruckt ist. Ist passabel. Ich ziehe auch das an.

Dann schnappe ich mir mein Geld und mein Handy. So bewaffnet verlasse ich mein Zimmer.

Im Sturmschritt laufe ich die Treppe hinunter und zum Ausgang hinaus. Sofort stand ich auf in der Fußgängerzone. Hier waren halb neun mehr Leute unterwegs als zu Hause zur Mittagszeit. Das war so deprimierend.

Vorsichtig gliedere ich mich in den Strom ein und lasse mich von der Masse mitziehen.

RebellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt