„Wer war den das?" fragt mich Vanessa, als die Tür hinter uns ins Schloss fiel. „Idiot. Also mein Bruder Karl. Der Idiot" erkläre ich ihr und muss über die Beschreibung lachen. Vanessa schüttelt nur amüsiert den Kopf. Zusammen laufen wir zur Treppe. Auf den Fahrstuhl hatten wir beide keine Lust. „Kannst ja mal mit zu mir aufs Zimmer kommen." sagt sie dann. Ich nicke und wir laufen die Stockwerke herunter. Im dritten Stock lenkt sie mich zum Ausgang des Treppenhaus.
Vanessa lief voran, ich folge ihr auf ein paar Meter Abstand. Ihre Haare sind echt erstaunlich lang und dicht für gefärbte Haare. Meine wurden von jeder Farbe zu einer anderen Farbe dünner und schlaffer. Das scheint bei ihr nicht der Fall zu sein. Vanessa bleibt vor einer Tür stehen und zieht ihre Karte. Das piepsen ertönt und wir können eintreten.
Vanessas Zimmer liegt auf der dem Meer zugewandten Seite des Hotels. Es war auch etwas größer und geräumiger als meins, allerdings stand ein riesiger Koffer und ein weiterer, kleinerer mitten im Raum, sodass es sehr eng wurde. Mit einer hastigen Bewegung wischt sie etwas vom Tisch in eine Tasche. Ziemlich schnell, trotzdem konnte ich erkennen, dass es Medikamente waren. Vanessa bemerkt meinen Blick, sagt aber ersteinmal nichts dazu. „Setz dich doch" fordert sie mich auf. Ich komme dem nach und lasse mich auf einen Stuhl Zimmer fallen. Vanessa schien sich sichtlich unwohl zu fühlen. Sie spielt mit einer ihrer pinken Haarsträhnen, sah immer auf den Boden und nie zu mir. Auch mir wurde es komisch und faltete meine Finger in meinem Schoß.
„Ich bin krank" flüstert Vanessa plötzlich. Obwohl ich sie ziemlich klar verstanden habe, glaube ich, mich verhört zu haben. Ihre Hand beginnt zu zittern und auch ihre Stimme klang ganz anders. Unsicher, wie ich jetzt reagieren soll, rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her. Ich warte, bis sie etwas sagt, doch sie scheint kein Wort über die Lippen zu bekommen. Deshalb suche ich meine Stimme und erhebe meine Stimme: „Wie lange schon?" frage ich leise. Sie läuft durch das Zimmer und zieht aus dem Fenster. „Drei Jahre" murmelt sie. Eine ganze Weile herrscht Schweigen, keiner von uns bekommt ein Wort über die Lippen.
Auch wenn ich Vanessa erst heute morgen kennengelernt habe, fühle ich mich ihr näher als einem anderen Menschen auf der Welt. Sie ist mir in vielen Hinsichten so ähnlich wie kein anderer Mensch. Vanessa ist die erste seit Jahre, die ich mir durchaus als Freundin vorstellen konnte. Und jetzt das.
„Ich möchte kein Mitleid oder so, aber ich wollte es dir einfach nur gesagt haben." meint Vanessa und dreht sich zu mir um. Ich nicke und frage dann leise: „Wie schlimm ist es?" Ihre Hand zittert und sie sagt dann: „Ich trage eine Perücke, muss jeden Morgen irgendwelche Therapien durchführen, Tabletten schlucken und hab somit eine Lebenserwartung von 19, max. 20 Jahren. Diese Reise ist von irgendeiner Agentur für kranke Jugendliche. Ich hoffe nur, dass ich nicht vorher Heim fahren muss." Zitternd ziehe ich meine Beine an meinen Oberkörper und schlinge die Arme darum. Vanessa läuft durch den Raum und kramt nach irgendetwas in ihrer Tasche. Ich sehe auf meine Knie.
Dieses lebenslustige, muntere, junge Mädchen stirbt. Einfach so. Vanessa hat so viele Träume und kann sie wahrscheinlich nicht durchleben. Sie erlebt hier einen Urlaub, der wahrscheinlich ihr letzter sein wird. Und ich? Ich beschwere mich über meine Familie, die Tatsache, dass mich scheinbar niemand akzeptiert wie ich bin und über Haarfarben, welche bei mir nicht möglich sind. Welch Ironie.Vanessa kommt auf mich zu und drückt mir einen Zettel in die Hand, auf welchem eine Zahlenfolge steht. „Meine Handynummer" sagt sie und setzt sich auf die Bettkante. „Ich möchte nicht, dass du mich bemitleidest, komisch behandelst oder ignoriest. Ich wollte dich bloß informieren. Ich weiß, dass das gerade ein ziemlicher Schock für doch war und das du sicher einen Moment für dich brauchst. Du hast meine Nummer, meld dich einfach." Schwerfällig bringe ich ein Nicken zustande. Auch Vanessa nickt. Langsam erhebe ich mich und laufe durch den Raum. „Bis dann" meint Vanessa. Ich glaube, eine Träne in ihren Augen gesehen zu haben. „Bis dann" krächze ich und verlasse das Zimmer. Im tranceähnlichen Zustand laufe ich zur Treppe. Langsam taste ich mich mehr die Stufen hinunter und laufe zu meinem Zimmer. Zitternd ziehe ich vor der Tür die Schlüsselkarte und schließe das Zimmer auf.
Hinter der Tür lasse ich mich die Wand hinabgleiten. Gedankenlos sehe ich zur gegenüberliegenden Wand. Ich merke, wie etwas mein Gesicht hinabrinnt. Tränen. Zum ersten Mal seit Jahren musste ich weinen. Weinen hatte ich mir vor Jahren abgewöhnt. Mein Vater hat immer rumgebrüllt, wenn ich geweint habe. Er wollte wissen, warum, hat mich teilweise wegen den banalen Gründen ausgelacht oder gar geschlagen. Aber ich war zehn Jahre alt. Natürlich sind da die Gründe zum heulen nicht eine Krankheitsepedemie in einem fernen Land. Früher habe ich viel und oft geweint, besonders wegen Filmen oder Serien. Und das konnte mein Vater natürlich nicht verstehen. Aber es ist ja nicht mehr vorgekommen seit meinem zehnten Geburtstag.
Doch jetzt saß ich an der Wand des Hotels und heule wie ein Schlosshund. Vanessa würde sterben. Einfach so. Weil sie eine Krankheit in sich trägt, die sie kaputt macht. Die Tränen tropfen auf meine Hose und auf mein T-shirt.
Ich spüre mein Handy in der Tasche vibrieren. Doch das interessiert mich wahrlich wenig. Es klopft an meine Tür, doch ich kann mich nicht aufrappeln, aufzumachen. Wer sollte schon davor stehen? Höchstwahrscheinlich ein Familienmitglied von der ach so tollen Familie Becker. Wahrscheinlich haben sie dann doch meine Zimmernummer herausbekommen. Ein aggressives Klopfen und ein damit verbundenes „Mia, mach mal auf. Ich weiß, dass du hier bist!" gab mir recht. Karl stand vor der Tür. Er musste mir gefolgt sein. „Verschwinde!" das sollte bestimmt klingen, doch meine Tränen, machten mir einen Strich durch die Rechnung. Meine Stimme klang total verheult, sodass ich das ‚Verschwinde!' mehr geschluchzt war. Karl klopft nocheinmal und sagt dann: „Weinst du etwa?" Ich stehe auf und laufe zu meinem Bett. Dort lege ich mich auf die Decke und vergrabe mein Gesicht in dem Lacken. Eine Weile lang klopft Karl noch an die Tür und ruft noch ein paar Sätze, welche ich aber nicht verstehen kann. Dann wird es ruhig.

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Rebell
Novela JuvenilMia Charlotte Becker: blaue Haare, schwarze Klamotten und laute Musik. Ihre Eltern haben mit ihrer Tochter abgeschlossen, sie konzentrieren sich mehr auf die anderen Kinder. Der diesjährige Urlaub soll Mias Leben ändern. Sie will ihren Platz im Leb...