Kapitel 16

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David wurde von Ethan verwandelt.
Ohne Ethan wäre David wahrscheinlich kein psychopatischer Vampir geworden.
David wäre vor 150 Jahren gestorben.
Er hätte mir niemals all diese Dinge antun können. Dinge, an die ich mich nicht erinnere, aber von denen ich weiß, dass ich sie erlebt habe.
Ohne Ethan kein David.
Ohne David kein zerbrochenes Ich.
Aber ohne Ethan auch gar kein Ich mehr. Hätte er mich nicht im Wald gerettet, dann wäre ich tot.

Ethans Blick ist starr auf mich gerichtet. Seine Miene wirkt angespannt. Seine Hand umfasst weiter meine. Er übt einen gewissen Druck aus. Es tut nicht weh, ganz im Gegenteil, es ist ein angenehmer Druck.

Verunsichert, wie ich reagieren soll, wende ich meinen Blick ab und schaue aus dem Fenster in den angrenzenden Wald. Aus dem Augenwinkel lässt sich erkennen, wie sich seine Pupillen für den Bruchteil einer Sekunde weiten. Er wartet auf meine Reaktion. Aber wie soll ich reagieren? Wütend aufspringen, wild herum gestikulieren und ihn dabei anschreien, dass er schuld an meiner jetzigen Situation ist? In Tränen ausbrechen, verängstigt von ihm weg rücken? Fluchtartig das Weite suchen, mich in meinem zimmer verbarrikadieren und alles und jedem aus dem Weg gehen, in der Hoffnung dass alles wieder so wird wie früher und dass mir weder David noch Ethan über den Weg laufen?

Am liebsten würde ich alles genau in dieser Reihenfolge tun, aber ich will die Wahrheit wissen, und zwar die ganze. Von vorne bis hinten.
Okay Rachel, du schaffst das!
Leicht zitternd greife ich nach dem Stift, den ich vor schreck fallen gelassen habe. Ohne ihn anzublicken befreie ich meine andere Hand aus seinem klammernden Griff. Sorgfältig streiche ich einmal über das leicht gewellte Papier auf meinem Schoß.

Erzähl mir alles über ihn.

Mit dem Absetzen des Stiftes gucke ich ihn wieder an. Seine Augen fliegen über die geschrieben Zeile. Er wirkt überrascht. Er hätte damit gerechnet, dass ich ausraste, was ich ja auch innerlich tue. In meinem Kopf liegt dieses Haus bereits in Schutt und Asche. Ethan darunter begraben. Und meine Mordgedanken gegenüber David machen mir selber angst. Aber äußerlich bleibe ich ruhig und verschlossen. Ich versuche meine ganzen Gefühle zu verschließen und rational und sachlich zu bleiben. Jetzt die Nerven zu verlieren, brächte mir rein gar nichts.
Abwartend schaue ich in seine smaragdgrünen Augen, die einen hauch dunkler geworden zu sein scheinen.

Zum gefühlt hundertsten Mal streicht er sich durch seine Haare.

"Es war im Sommer 1863 als ich David das erste Mal traf. Ich war gerade auf dem Weg in ein Feldlazarett in der Nähe von Wilson's Creek, als ein Soldat der Konföderation mich Angriff. Ohne Vorwarnung schoss er mir in den Rücken."

Ich hebe meine Hand, um ihn zu unterbrechen.

Du warst Soldat im Bürgerkrieg?

Ethan nickt.

Und du wurdest von deinem eigenen Kameraden angeschossen?

"Ich habe nicht für die Konföderierten, sondern auf der Seite der Nordstaaten gekämpft."

Ethan gibt mir gar nicht genug Zeit, um meine Gedanken zu sortieren, denn er fährt unbeirrt fort.

"Auf jeden Fall war besagter Soldat ganz schön überrascht, als ich nicht tot zu Boden gegangen bin, sondern mich umgedreht habe und meinte, dass er gerade sein eigenes Todesurteil unterschrieben hätte. Das war das erste Mal, dass ich David gesehen habe. Er stand vor mir in seiner grauen Uniform und mit noch immer hochgehaltenem Gewehr. Man konnte ihm seinen Schock und seine Angst deutlich ansehen. Jeder andere wäre davon gelaufen oder hätte noch einmal geschossen, aber David nicht. Er stand ganz ruhig da und musterte mich. Die Angst war schnell aus seinem Blick gewichen. Dafür musterte er mich neugierig. 'Ich habe auf dich geschossen. Du müsstest Tod sein, aber du stehst allen Anschein nach quick lebendig vor mir.'sagte er mit fester Stimme. 'Vielleicht hast du einfach nur schlecht gezielt?'erwiderte ich. 'Ich glaube eher weniger. Ich bin ein ausgezeichneter Schütze.'widersprach er mir, 'Es scheint also tatsächlich etwas war an den Gerüchten zu sein, dass Lincoln die lebenden Toten in seiner Armee kämpfen lässt. Aber macht euch keine all zu großen Hoffnungen, selbst mit Kreaturen wie euch werden wir fertig. Jeder findet den Tod. Niemand ist wahrhaftig unsterblich.'Ich sagte ihm, dass er gerne versuchen könnte einen Weg zu finden mich zu töten. Ich würde ihm genau eine Minute geben bevor ich ihm sein Herz raus reißen würde. Und weiß du was er gemacht hat? Er stand einfach nur vor mir und angefangen zu lachen. 'Glaubst du allen ernstes ich habe Angst vor dem Tod? Die Leute sterben hier wie die Fliegen, da kommt es auf eine weitere Leiche auch nicht mehr drauf an. Mit dem Tod habe ich mich schon längst abgefunden. Er ist ein Bestandteil meines Lebens.'
Kurz darauf ist eine weitere Patrouille der Konföderierten auf uns gestoßen. Ich hatte keine Lust zu kämpfen und bin einfach weiter zum Lazarett gelaufen.
Ein paar Tage später, als die Schlacht schon so gut wie entschieden war, sollte ich aufs Schlachtfeld um verwundete Kameraden zu holen und zu heilen. In einem Graben etwas abseits bin ich dann erneut auf David gestoßen. Er lag da auf den Rücken, sein Gewehr fest umklammert und durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Als er mich sah, schlich sich ein höhnisches Grinsen auf sein verdrecktes Gesicht und man konnte förmlich den Abscheu in seinen Augen mir gegenüber sehen. Ich war für ihn kein lebendiges Wesen. Ich dachte mir der Tod wäre viel zu schön für dieses Schwein, also habe ich im mein Blut gegeben und ihm sein Genick gebrochen."

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