1. Teil
Haley Reinharts Stimme zerreisst die wunderschöne Stille und ich drehe mich in meinem Bett zu meinem Handy hin. Es liegt auf dem dicken Holzrahmen und die herzzerreissende Melodie von Undone schwillt stetig an. Ich muss eine Weile danach tasten, bis ich es endlich erwische und kann gerade noch verhindern, dass Samira Kalač, meine beste Freundin, auflegt. Ihrer Meinung würde ich mich strafbar machen, wenn ich ihren Anruf ignorieren würde. Noch schlimmer, wenn ich es sogar wagen würde, sie einfach wegzudrücken.
Wie damals bei einem meiner Bewerbungsgespräche...Gott, sie stand drei Stunden später vor meiner Haustüre und ohrfeigte mich dafür. Gut, sie ohrfeigte mich nicht nur mit ihrer Hand, sondern knallte mir den Atlas ihrer Mutter an die Schulter. Ja, Mira lebt brutal und hasst es wie die Pest, wenn jemand sie ignoriert oder nicht gleich antwortet. Aber genau das macht sie so wundervoll - weil man immer ganz sicher sein kann, dass sie sofort antwortet.
Also hebe ich hastig ab und stelle auf Lautstärker.
„Hi, Mira!", begrüsse ich sie. Meine Stimme ist total heiser. Liegt wohl daran, dass ich den ganzen Mittwochnachmittag damit verbracht habe, meine neuste Errungenschaft zu lesen. Meine Patin arbeitet als Professorin an der Universität Zürich und da ich sie viel zu selten sehe, schickt sie mir jeden Monat ein oder zwei Bücher. Heute kam das Paket mit Looking for Hope und Hope Forever, von Colleen Hoover. Eigentlich sollte ich ja noch für den Englischtest morgen lernen, aber das wird wohl warten müssen. Ich bin so vertieft in die Sicht von Sky, dass ich einfach nicht aufhören kann.
„Hey, Babygirl! Also, du errätst nie, wen ich heute am See getroffen habe!"
„Hmm...", gebe ich von mir. Mira ist mal wieder voll in ihrem Element und kurz davor, mir etwas wahrscheinlich wichtiges zu erzählen, aber gerade küsst Dean Sky zum ersten Mal und ich kann mir den verliebten Seufzer nicht verkneifen. Gott, ich muss unbedingt mehr von diesen Colleen Hoover-Büchern kaufen oder wenigstens in der Bibliothek danach suchen. Sie schreibt so unglaublich gut -
„Cass! Fuck, hörst du mir überhaupt zu?!"
Ich zucke zusammen und dabei fällt mein Buch über den Bettrand und knallt auf den Boden. Samira fragt mich misstrauisch: „Liest du schon wieder?", während ich mich etwas ungelenk über den Bettrand hinwegbeuge und nach dem Buch greife.
„Ist das verboten?", frage ich sie deshalb zurück und ich höre sie seufzen, genau, als ich aus dem Bett falle und ebenfalls auf dem Boden lande. Ich stosse mir den rechten Arm an meinem Kleiderstuhl, wo all die Wäsche draufliegt, die ich eigentlich zu Mama bringen sollte, damit sie sie waschen kann, aber einfach nur zu faul dazu bin.
„Hast du dir wehgetan?", kommt es sofort panisch von Mira und ich gebe nur ein Schnauben von mir.
„Keine Sorge. Das heilt wieder -"
„Du blutest aber nicht, oder? Ich will nicht schon wieder schuld sein, wenn deine Mom das entdeckt!", setzt Mira noch einen drauf, ich hieve mich auf das Bett und werde mein Buch auf den Tisch dem Bett gegenüber. Es landet genau auf dem Stapel Englischbücher, die ich mir heute noch ansehen sollte, und reisst ihn um.
„Keine Sorge, Baby", seufze ich, „Ich blute nicht, auch habe ich sonst keine Platzwunden. Ich bin nur aus dem Bett gefallen -"
„Mal wieder?!"
Ich lache auf. Stimmt, wann bringe ich das nicht fertig?
„Also, was wolltest du mir so dringendes erzählen?", sage ich und ziehe meine Decke wieder über die Beine. Während Mira tief Luft holt, reisse ich die Packung mit M & M's auf. Ich brauche unbedingt Zucker, bis Mama zum Abendessen ruft. Heute hatte ich eindeutig zu wenig, so oft wie ich heute über meine eigenen Beine stolpere.
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Emorragia
RomanceEmorragia; ital. blutend Casey Raif ist knapp fünfzehn, wohnt in einem unbedeutenden Dorf in der Schweiz, liebt Bücher und kennt sich super mit Computern aus. Sie ist das typische Goodgirl und kennt auch kaum was anderes. Wie sehr wünschte sie sic...