CASEY: 15. 3. 2016

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Teil 2


Meine Familie besitzt ein eigenes Haus, direkt unter den Lehrerparkplätzen unseres Oberstufenschulhauses.

In Flüelen ist es nämlich echt schwierig, ein Haus zu bauen, ohne dass einem alles vorgeschrieben wird - so sagt mein Vater. Er kommt aus der Schweiz, aus Flüelen.

Meine Mutter kommt aus Montenegro, genauer gesagt aus Budva. Das ist eine Stadt am Meer, wo wir auch jeden Winter in unser Ferienhaus ziehen und uns von der eisigkalten Schweiz fernhalten. In unserem Haus wohnen auch noch zwei weitere Familien, die uns Miete zahlen. In der ersten Wohnung wohnen Arian und seine Freunde, sie teilen sich zu dritt die Miete. Im zweiten Stock wohnen dann Arians Eltern und Deda aus Montenegro. Die letzten beiden Stockwerke gehören uns, unter dem Dach schlafen ich und meine Brüder.

Ich bin zweisprachig aufgewachsen und beherrsche es, beide Sprachen voneinander zu trennen. Ausser wenn ich total wütend bin, dann schaltet mein Hirn auf Serbisch und ich fluche vor mich hin. Abgesehen dass ich meinen Eltern irgendwie nicht gleiche, habe ich etwas anderes geerbt. Man nennt das Hämophilie oder auch Blutgerinnungskrankheit. Die Ärzte bezeichnen mich und meine Brüder als Bluter. Wir haben eine Störung mit dem verheilen von Wunden. Stossen wir uns den Kopf, können wir eine Hirnblutung haben, schneiden wir uns in die Haut, hört es nicht auf zu bluten und die Wunde schliesst sich nicht. Ich darf keine extremen Sportarten ausüben, auch jeden Morgen Pillen schlucken und auf gar keinen Fall Alkoholikerin oder Drogenabhängige sein. Denn das würde alles nur noch verschlimmern und meine Gerinnung womöglich ganz beenden.

Ich hasse die Krankheit, aber sie gehört zu mir. Auch, dass wenn ich einen Bluterguss habe, immer meine besondere Salbe hervornehmen muss und den blauen Fleck damit einreiben muss. Das ist ja eigentlich gar nicht so schlimm. Schlimmer wird es eher, wenn ich mir einen Finger in der Autotür einklemme und dann befürchten muss, dass mir mein Fingernagel abfällt und keiner mehr nachwächst. Platzwunden sind besonders heftig, denn da kann es sogar sein, dass ich ohnmächtig werde.

Meine Mutter trägt die Krankheit nur aus. Sie ist ein Konduktor, wie jede Frau es bei Hämophilie oder Trisomie 21 sein sollte. Das blöde nur, dass bei mir was anderes los ist. Mein Vater ist ebenfalls Konduktor, trägt die gleiche Krankheit nur an seine Kinder weiter. Es tritt der seltene Fall auf, dass ein Mädchen von beiden Eltern den kranken Genteil bekommt. Meine beiden Brüder sind ebenfalls Bluter, allerdings sind wie sie Hühner, wenn es um mich geht. Das sind irgendwie alle aus meiner Familie. Ich bin das wohlbehütete Küken, das arme Ding, welches ebenfalls krank ist. Nur weil meine Eltern mich nicht ebenfalls auf die Krankheit testen liessen, als ich geboren wurde, wurde es auch so ein Schock für alle. Als ich fünf war stolperte ich über einen Bordstein und schlug mir mein Knie auf. Das Problem: es wollte einfach nicht aufhören zu bluten und ich fing an zu weinen. Meine Brüder mussten mich heimtragen und als Mama mich so sah, da brach sie auch noch in Tränen aus. Sie gibt sich die Schuld dafür, dass ich ebenfalls darunter leide.

Aber ich schiebe ihr nichts in die Schuhe. Immerhin, sie ist meine Mutter. Und sie kann auch nichts für die Genetik, die sie von ihren Eltern vererbt bekommen hat.

Als ich mich fürs Joggen umgezogen habe, gehe ich in die Küche, wo Mama das Abendessen vorbereitet. Ich greife nach einem Apfel aus der Früchteschale und sie dreht sich um. In der Hand hält sie ein Tuch und legt es neben sich.

„Gde si krenula? Sad ce večera!"

Wohin willst du jetzt noch? Es gibt doch gleich Abendessen!

„Ich weiss, Mama. Samira und ich gehen noch joggen. Ich bin etwa um sieben wieder da –"

„I sad ce da se smraci, dušo!"

Es ist gleich dunkel, mein Herz!

Ich hasse es, wenn Mama mich mein Leben nennt, denn so bindet sie mich noch mehr an sich als immerhin schon. Also seufze ich abgrundtief und sage: „Molim te, mongul da idem! Ich weiss, dass es dunkel ist. Wir passen schon auf...Molim te..."

Ich flehe sie an, dass sie mich gehen lassen soll. Mama ist immer so, wenn es um solche Dinge geht. Sie lässt sich viel zu leicht erweichen.

Mama seufzt ebenfalls und nickt dann kurz, wofür ich sie auf die Wange küsse und aus der Wohnung stürme. Um ein Haar hätte ich im Treppenhaus den knutschenden Arian und eine klitschnasse Frau umgerannt, doch ich kann ihnen im letzten Moment noch ausweichen. Arian ruft mir hinterher, dass ich Samira grüssen soll, aber ich schreie über meine Schulter: „Jebi se! Uradi sam!"

Und dann bin ich aus dem Schneider, noch bevor die Tür hinter mir zugeht. Soll Arian doch selber mit Mira flirten, wenn er will. Immerhin getraut er sich auch, in unserem Treppenhaus rumzumachen, obwohl er weiss, dass Deda das hasst. Soll er doch selber seinen Kopf hinhalten, ich bin nicht sein Laufbursche.

Ich laufe immer die Strasse entlang, während ich Musik höre. Ich starre auf meine Füsse und denke an gar nichts, nur an Demi Lovatos Skyscraper und ihre Stimme. Ich weiss, ich höre mir verdammt traurige Musik an, aber sie kann auch total schön sein. Wenn man will und das auch erkennen kann.

Ein Motorgeräusch, welches sich von vorne nähert, reisst mich aus meiner Denkerminute.

Als ich aufsehe, ist es schon zu spät.

Der Mofafahrer kann nicht mehr bremsen und fährt mit voller Wucht in mich hinein, ich fliege durch die Luft und knalle mit dem Kopf an das Gitter, welches den Bordstein von den Gleisen trennt. Schwarze Punkte beginnen vor meinen Augen zu tanzen und an meinem Kopf wird es warm, bevor ich wegnicke und die Panik nicht einmal mehr aufkommen kann. Auch die Frage, warum dieser Mann auf dem Fussgängerweg gefahren ist, verschwindet im Hintergrund.


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Bevor ihr denkt, dass ich mich mit Serbisch auskenne, dann muss ich euch leider enttäuschen. Ich würde kein Wort verstehen, aber Samiras Vorbild in der Realen Welt schon....


IS

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