Kapitel 2 - Kindheitserinnerungen

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„Hast du alles?", fragte ich meine Schwester zum tausendsten Mal, ehe ich die zwei kleinen Stufen aus dem Haus auf den Gang hüpfte.
„Jetzt ja.", sagte Trine und folgte mir auf den Weg hinaus.
„Bist du sicher? Ich habe keine Lust später hier hoch zu wandern, nur weil du etwas vergessen hast.", schnaubte ich und zog hinter ihr, die grüne Haustüre zu und sperrte ab.
Natürlich klemmte das Ding wieder und unwillkürlich kam die Begegnung von gestern Nacht in den Sinn.
„Ach und wenn schon.", riss Trine mich aus meinen Gedanken. „Dann suche ich mir einfach jemanden, der es mir holt."
Sie zwinkerte verschwörerisch, ehe sie sich ihre kleine Tasche um die Schulter hängte und sich bei mir einhakte.
„Dazu musst du erstmal einen finden.", lachte ich und ließ mich von ihrer Freude anstecken.
„Ich wüsste da schon jemanden, falls die Tür wieder klemmen sollte." Meine Schwester sah mich von der Seite an und grinste frech.
„Ich bitte dich.", tat ich ihre Wort ab, während wir den engen, steilen Pfad abwärts gingen. In den letzten Jahren hatte sich hier wirklich nichts geändert.
Alles war noch immer so verschlafen wie ich es kannte.
„Der stand voll auf dich, glaub mir.", versicherte sie, während ich nur den Kopf schüttelte.
„Der hat mich nicht mal richtig gesehen. Außerdem hab ICH IHN nicht mal richtig gesehen.", erklärte ich und schüttelte den Kopf.
„Oh glaub mir, der hat dich gesehen und ich wette mit dir, den werden wir noch mal wiedersehen.", behauptete sie und grüßte, als wir an einer Gruppe alter Damen vorbeiliefen.
Natürlich mussten wir kurz stehen bleiben und uns anhören wir groß und schön wir doch geworden waren.
Welch ein Glück, dass wenigstens meine Schwester Italienisch konnte, während ich nur einzelne Wörter verstand.
Nach einiger Zeit verabschiedeten wir uns und gingen über den kleinen Dorfplatz hinter der Kirche.
Schon von weiten sahen wir unsere Eltern in dem kleinen Restaurant sitzen.
„Morgen.", begrüßte ich die beiden und drückte meinem Dad einen Kuss auf die Wange, bevor ich mich auf den Stuhl neben ihm fallen ließ.
„Guten Morgen ihr zwei." Meine Mutter hatte einen großen Hut auf, trug eine weite, helle Bluse und eine kurze Stoffhose.
„Buongiorno!", ertönte auf einmal eine hohe Stimme. „Che bella famiglia."
Ohne mich umzusehen, wusste ich wer da von hinten auf uns zu stürmte.
„Alessia." Meine Mutter war aufgesprungen und fiel ihrer Freundin Schrägstrich Trauzeugin um den Hals.
Die beiden Frauen herzten und küssten sich an jeder freien Stelle.
Dann kam Alessia zu uns und setzte sich an den Tisch, nachdem sie ebenfalls meinen Vater auf beide Wangen geknutscht hatte.
„Wie geht's euch meine Lieben?", wollte sie wissen und knuddelte meine Schwester von der Seite. Dann fiel ihr Blick auf mich.
„Per l'amor del cielo, Mina!", schrie sie beinahe, ehe sie um den Tisch herum stürzte und mich auf die Füße zog.
„Oh Gott!", lachte ich und drehte mich gemeinsam mit ihr um die eigene Achse.
„Meine Güte, du bist so... crescere e grande geworden und so unglaublich piuttosto." Sie ließ mich so plötzlich los, dass ich erstmal kurz taumlete.
Dann streckte ich mich zu meiner Mutter. „Was hat sie gesagt?"
Meine Mutter und Alessia begannen zu lachen.
„Sie sagt, dass du so erwachsen, groß und unglaublich hübsch geworden bist.", übersetzte sie für mich und grinste bis über beide Ohren. „Und da muss ich ihr wirklich Recht geben."
Ich lächelte und bedanke mich.
„Du musste unbedingte mit Antonio reden.", meinte sie und stand auf.
Alessia war die Besitzerin des Restaurants in dem wir, seit wir hier Urlaub machten, aßen und frühstückten. Und Antonio oder kurz Tino, war mein bester Freund hier. Wobei nicht nur hier. Tino war mein bester Freund. Es war schwer über die Entfernung Kontakt zu ihm zu halten. Aber wir hatten das bis jetzt immer geschafft. Ein Paar mal hatte er mich sogar schon in München besucht.
Tino war groß gewachsen, hatte helle Haare, hellgrüne Augen und war der beste Freund, den man sich nur wünschen konnte.
„Ich gehe und hole ihn, sì?" Bevor ich etwas erwidern konnte, war sie bereits im inneren des Lokals verschwunden. Alessia war eine kleine vollbusige Frau, mit ausladenden Hüften. Ihre dunklen Locken wackelten bei jedem ihrer Schritte.
„Gott, ich hab sie so vermisst.", seufzte meine Mutter und trank einen Schluck von ihrem Kaffee „Und diesen Kaffee habe ich auch vermisst."
Ein Paar Hände legten sich auf meine Augen und verdunkelten meine Welt, während ich ein paar Lippen an meinem Ohr spürte. „Dove è la mia Bella?", flüsterte eine Stimme leise und ich sprang schreiend auf. Denn das sagte nur mein bester Freund zu mir: Wo ist denn meine Schöne? Typisch für ihn.
„Tino!" Lachend fiel ich ihm um den Hals.
„Il mio piccolo Mina." Er fasste mich an der Hüfte, hob mich hoch und wirbelte mich durch die Gegend. „Meine kleine ist wieder hier."
Lachend umarmte er mich und küsste mich danach überschwänglich auf die Stirn. „Wie geht es dir?", wollte er wissen, nachdem er den Rest meiner Familie ebenfalls begrüßt hatte.
„Seit du aufgetaucht bist, ist mein Tag gerettet.", kicherte ich und folgte ihm nach drinnen an die Bar.
„Oh das höre ich gerne.", erwiderte er und band sich eine Schürze um die Hüfte.
Dann begann er an der Kaffeemaschine rumzuwerkeln und kurz darauf stellte er eine große Tasse auf den Tresen und schob sie mir rüber.
„Dein Lieblingscappuccino mit einem kleinen Schuss Karamell.", verkündete er und lehnte sich lasziv auf die Bar.
„Du bist ein Schatz.", grinste ich und küsste ihn über den Tisch hinweg auf die Wange.
„Ich weiß." Er zwinkerte mir zu.
„Und was hat sich in den letzten Jahren hier so verändert?", fragte ich ihn und trank meinen Kaffee.
Er stockte mitten in der Bewegung und blickte mich komisch an.
Ich zog die Augenbrauen in die Höhe. „Oh oh."
„Kannst du laut sagen.", stimmte er mir zu.
Komisch sah er zu mir rüber. „Es ist viel passiert. Sehr viel."
„Jetzt schieß schon los, oder muss ich dir alles aus der Nase ziehen?", forderte ich ihn auf, und rutschte unruhig auf meinem Barhocker hin und her.
„Gestern Nacht als ihr angekommen seid, habt ihr euch gar nicht gewundert, dass es so ruhig ist? Und so dunkel? Irgendwie verlassen und tot?" Etwas Undefinierbares lag in seinem Blick, während er mir einen zweiten Keks auf die Tasse legte.
In Gedanken ging unsere Ankunft nochmal durch und musste ihm Recht geben. Das Dorf war früher zu jeder Uhrzeit belebt. Doch gestern war alles still gewesen, deswegen hatte ich auch Trine so gut gefunden. Ihr Lachen hatte von den Wänden gehallt, als wäre der Ort verlassen. „Du hast Recht.", gestand ich und zog die Stirn kraus.
„Das geht seit knapp einem Jahr so." Er kontrollierte, ob jemand uns hörte, ehe er begann.
„Sie nennen sich Lupi Neri. Schwarze Wölfe. Was sie sind? Eine Bande Gesetzloser, Krimineller, Verbrecher, Mörder. Und sie haben sich unseren schönen Heimatort als Hauptquartier ausgesucht. Sie haben Kontakte nach ganz Italien. Es geht um Drogen, Mord und Prostitution. Ihre Anführer hat nie jemand zu Gesicht gesehen und es überlebt. Man sagt sie seien Monster. Monster ohne Gefühle. Brüder angeblich."
Während er erzählte, stockte mir der Atem.
„Du verarscht mich, doch oder?" Unsicher lächelte ich ihn an.
„Warum sollte ich?" Jetzt war er es, der die Gegenfrage stellte.
„Das heißt niemand ist nach Einbruch der Dunkelheit noch unterwegs?" So langsam wurde mir mulmig zumute, wenn ich an gestern Nacht dachte.
„Niemand, dem sein Leben was lieb ist.", bestätigte er.
„Oh Gott." Auf einmal begannen meine Hände zu zittern. Schnell stellte ich die Tasse ab und barg das Gesicht in meinen bebenden Fingern.
„Alles in Ordnung?", fragte er, aber ich reagierte nicht. Der Fremde. Was war mit dem Fremden von letzter Nacht? Gehörte er zu diesen Lupi Neri? Oder war er nur ein einfacher Passant? So wie meine Schwester und ich?
Aber wenn er genauso ein Normaler Passant war, wusste er dann von diesen Gangstern? War er einer von ihnen? Ein schwarzer Wolf?
„Mina!" Eine Hand legte sich auf meine. „Maledetto Mina. Rede mit mir!",
„Ich glaube ich brauche was Starkes.", wisperte ich dann und merkte wie mir all die Farbe aus dem Gesicht rutschte.
„Parla con me!", forderte er mich auf.
„Mann Tino!", fuhr ich ihn an. „Du weißt doch genau, dass ich kein Italienisch kann."
„Entschuldige. Ich habe nur gesagt, dass du mit mir reden sollst.", übersetzte er mir.
„Trine und ich. Gestern Nacht. Da war so ein komischer Typ. Ich habe sein Gesicht nicht gesehen. Er war irgendwie... unheimlich. Ich meine er war nicht unfreundlich. Ganz im Gegenteil. Du weißt doch, dass die Tür immer klemmt. Und er hat sie geöffnet und mir dann den Schlüssel zurückgegeben. Tja und als ich mich bedanken wollte, war er bereits fort. Als wäre er nie dagewesen.", erzählte ich.
„Von den Bewohnern hier war das keiner. Wenn einer von uns sich um diese Uhrzeit noch raustraut, dann rennt er. Dann rennt er, wie von den Wölfen gejagt. Das verspreche ich dir.
Du hast großes Glück gehabt. Ich danke Gott dafür, dass du noch hier sitzt und bei mir Kaffee trinkst."
„Ich bitte dich. Wir wissen doch gar nicht, ob das wirklich einer von denen war. Und selbst wenn, ich habe kein Problem damit, denen meine Meinung zu sagen. Ich glaube nicht an diesen Unfug. Und ich werde mir nicht meinen Urlaub von denen vermiesen lassen.", brauste ich auf.
„Mina.", sprach Tino eindringlich. „Ich bitte dich. Dieser Ort hat nicht mehr die Idylle von damals. Das ganze hier ist der Hölle näher, als jeder andere Punkt der Welt."
„Tino, du weißt, dass das mich das nicht interessiert und jetzt lass uns was unternehmen, bevor meine Eltern auf die Idee kommen, mich mitschleppen zu wollen.", schlug ich vor, auch wenn mein Herz noch immer viel zu schnell klopfte.
„Auf was hast du denn Lust?" Frech zog er eine Augenbraue in die Stirn.
„Hm... Wie wärs mit einem schönen Spaziergang zur alten Ruine am Bach und frisch gepflügten Feigen?", schlug ich vor und konnte mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
Seit ich denken konnte, liefen wir dort hin und stahlen uns die besten Früchte von ganz oben.
„Oh ja.", stimmte Tino zu. „Wir können sogar sofort los, wenn du möchtest."
„Wie sagt man: Molto felice? War das richtig so?" Ich zwinkerte ihm zu, während ich vom Hocker sprang, um den Tresen herumging und meine Tasse in den Geschirrspüler räumte. Dann klaute ich mir noch einen Keks aus dem großen Glas neben der Kasse, griff nach meiner Tasche und stellte mich an die Tür.
„Das war richtig.", lachte er und kam zu mir.
„Wow. Mein erster halber richtiger italienischer Satz.", stimmte ich in sein Lachen mit ein.
Und so machten wir uns gemeinsam zu dem Ort, an dem wir gemeinsam unsere Kindheit verbracht hatten.

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