Kapitel 6 - Der Freund, der mich sitzen ließ

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"Das könnte alles dir gehören, Mina.", sagte er ernst und kam einen Schritt näher.
Mir wurde unwillkürlich flau im Magen. Was passierte hier nur? Er war doch mein bester Freund. Nicht mehr.
Oder?
Unsicher wandte ich den Blick ab.
"Ein Wort von dir und ich würde nie wieder eine andere Frau ansehen. Ich würde dich die Einzige nennen und dir irgendwann einen kleinen Ring kaufen, damit alle sehen, dass du zu mir gehörst. Es ist ganz leicht. Nur ein Wort. Dieses kleine eine Wort." Er kam noch näher. Sein Kinn berührte fast meine Stirn.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Seine Finger strichen meine Haare zurück und kurz darauf spürte ich seinen Lippen an meinem Ohr.
"Du musst nur ja sagen.", hauchte er und ich schloss die Augen.
Die Situation hier nahm gerade eine Richtung an, die mir ganz und gar nicht gefiel. Wobei das gelogen war. Es gefiel mir und das war der Punkt. Es durfte mir nicht gefallen. Tino durfte mir nicht gefallen.
Es würde alles zwischen uns kaputtmachen.
"Tino!", wisperte ich, legte meine Hand auf seine Brust und schob ihn ein Stück von mir weg. "Das willst du doch eigentlich gar nicht."
Seine Haut war weich und warm. Wunderschön. Eine wunderschöne Versuchung.
Er lächelte. "Und was ist wenn doch? Wenn das genau das ist, was ich will?" Er machte eine Pause und sah mir tief in die Augen. "Was ist, wenn du das bist, was ich will?"
Ich schluckte. Er wusste offenbar genau was er sagen musste, um jemanden um den Finger zu wickeln.
Dann begann er plötzlich zu lachen und ich atmete erleichtert auf. Auch wenn sein Lachen gespielt klang und ich glaubte einen kleinen Funken Enttäuschung in seinen Augen gesehen zu haben.
Nach kurzen Abwägen erklärte ich die Situation für ungefährlich und schlug ihm leicht gegen die Schulter. "Du bist so bescheuert! Fast hättest du mich gehabt."
"Ach wirklich?", fragte er und schien mir fast ein wenig ZU neugierig. Aber ich würde das einfach vergessen. Die ganzen letzten fünf Minuten. Einfach wegradieren. Als wäre es niemals passiert.
"Ja, beinahe.", gestand ich ehrlich.
"Wusste ich es doch.", grinste er schief. "Ich kriege sie alle rum."
Skeptisch sah ich ihn an. "Ich glaube jetzt bist du derjenige, der dringend eine Abkühlung braucht."
Bevor er noch etwas erwidern konnte, hatte ich ihn bereits vom Felsen ins kühle Wasser geschubst.
Lachend blickte ich zu ihm hinab, als er laut prustend wieder auftauchte.
"Das bekommst du zurück!", drohte er und kletterte vorsichtig wieder zu mir hinauf.
Grinsend wich ich zurück. "Na hat das deinen Kopf wieder zur Vernunft gebracht?"
Er grinste gefährlich und ich sah etwas in seinen Augen aufblitzen. "Nein!", sagte er langgezogen. Dann stürzte er auf mich zu.
Erschreckt quiekte ich auf und floh. Kam allerdings nicht weit.
Denn der Fels war nunmal irgendwann zu Ende und so stand ich relativ zügig vor der Kante. Vor mir Tino der immer näher kam, hinter mir das Blaue Wasser.
"Na komm schon her!", forderte ich ihn heraus und zwinkerte ihm frech zu.
Das ließ er sich nicht zweimal sagen, er streckte die Hände aus und schubste mich.
Leider hatte er dabei übersehen, dass meine Finger sich um sein Handgelenk geschlossen hatten und ich ihn so mitzog.
Schreiend fielen wir beide ins Wasser.
Kalt umschloss das Meer mich und ich grinste in mich herein, während ich zurück an die Oberfläche schwamm.
Lachend steckte ich den Kopf zwischen den Wellen hervor und wartete auf Tino.
Er lachte ebenfalls und spritze mich absichtlich nass.
Bevor ich mich aufregen konnte, hatte Tino sich bereits umgedreht und war ein Stück hinaus geschwommen.
Gerade wollte ich die Verfolgung aufnehmen, als ein lauter Piff mich innehalten ließ.
Mein Kopf zuckte ans Ufer.
Doch da war nichts zu sehen.
Hatte ich mir das nur eingebildet?
Vorsichtig warf ich einen Blick zu Tino.
Sein Blick war auf einen Punkt am Ufer gerichtet. Und dann sah ich es.
Eine Person lehnte auf der Brüstung und sah zu uns hinab. Von meinem Punkt aus konnte ich sie nicht genau erkennen. Aber auf Grund der breiten Schultern, würde ich schätzen, dass es ein Mann war.
Er trug eine dunkle Lederjacke und eine verspiegelte Pilotenbrille.
Erneut sah ich zu meinem besten Freund. Er und der Fremde starrten einander über die Entfernung hinweg an.
Langsam schwamm ich rüber zu einem der näheren Felsen und hievte mich - ziemlich unsportlich - hinauf.
Gerade als ich trockenen Boden unter den Füßen hatte, ertönte erneut ein Pfiff. Dieses Mal länger und irgendwie... dunkler.
Verwirrt sah ich auf die Stelle, an der zuvor der Unbekannte stand.
Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass die Straße leer war. Keine Menschenseele war zu sehen.
Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen.
"Ich glaube ich drehe durch.", sagte ich leise.
"Nein tust du nicht.", beruhigte Tino mich, der sich gerade hinter mir aus dem Wasser zog.
Bei ihm sah das natürlich viel athletischer aus, als bei mir.
"Das heißt...", begann ich.
"Das heißt, dass du gerade sozusagen meinen Boss kennengelernt hast.", knurrte er und lief an mir vorbei zu unserem Platz.
Ich verharrte einen Moment auf der Stelle, bis ich ihm folgte.
"Ich komme nicht mehr mit.", erklärte ich und schnappte mir mein Handtuch.
"Umso besser für dich.", meinte Tino nur. "Unwissenheit ist ein Segen. Zumindest in diesem Fall."
Die plötzliche Kälte in seiner Stimme erschreckte mich.
"Und was wollte er von dir?", wollte ich wissen und stellte mich vor ihn.
Er zuckte mit den Schultern. "Es war eine Warnung."
"Eine Warnung?", wiederholte ich und sah ihn kritisch an. "Wofür?"
"Keine Ahnung.", behauptete er. Aber ich wusste, da war mehr. Da war noch etwas anderes. Er wusste ganz genau, was für eine Warnung.
"Tino!", mahnte ich und baute mich vor ihm auf. "Ich sehe genau, wenn du mich anlügst. Und komm mir jetzt nicht mit, Unwissenheit ist ein Segen."
Einen Augenblick lang erwiderte er meinen Blick nur kalt, dann schloss er die Augen und seufzte. "Ich soll mich von dir fern halten."
Seine Worte waren wie ein Schlag in meine Magengrube. Alles wankte und meine Welt kippte.
"Warum?", hauchte ich und klammerte mich an mein Handtuch.
"Ich kann es dir nicht genau sagen. Wirklich nicht. Vielleicht weil du mich vom Geschäft ablenkst oder Unruhe ins Dorf gebracht hast. Vielleicht ist auch etwas ganz anderes. Ich weiß es nicht." Er fuhr sich durch die Haare. "Ich habe wirklich keine Ahnung."
Langsam wandte ich mich von ihm ab und blickte auf das weite Wasser.
Zwei, drei Minuten brauchte ich um mich zu sammeln und zu begreifen, was das für uns hieß.
"Und jetzt?" Meine Stimme war ungewohnt schwach.
Aus dem Augenwinkel heraus sah ich wie er mit den Schultern zuckte, ehe er sich sein T-Shirt wieder überzog.
"Wir finden schon einen Weg.", versicherte er und schob sich seine Sonnenbrille auf die Nase.
Ich lachte bitter. Das war doch Wahnsinn!
ICH sollte eine Ablenkung darstellen? So ein Schwachsinn...
"Und wenn nicht?", fuhr ich herum.
Doch Tino war schon nicht mehr hinter mir, stattdessen kletterte er gerade über die Brüstung.
"TINO!", schrie ich und blickte ihn entsetzt an. "Verdammt was soll das?!"
"Wonach sieht es denn aus?", rief er zurück.
"Du lässt mich hier jetzt nicht alleine!", brüllte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Ich muss.", drang seine Antwort an mein Ohr.
"ICH WARNE DICH!" Wütend starrte ich ihn an.
"Du kennst dich doch hier aus.", entgegnete er nur.
"TINO!!" Meine Stimme war ein geladenes Knäul aus Wut.
"Tut mir leid." Und mit diesen Worten war er verschwunden.
Ungläubig blickte ich ihm hinterher.
Ich konnte einfach nicht glauben, dass er mich hier wirklich alleine gelassen hatte.
Schnaubend drehte ich mich herum und fuhr mir durch die nassen Haare.
Was sollte das? Da kam so ein komischer Vollidiot vorbei, pfiff zweimal und Tino verschwand!
Mein bester Freund ließ mich hängen, für seine kriminelle Laufbahn?!
Das konnte einfach nicht wahr sein...
Meine Wut auf diese halbwüchsigen Jungs, die der Meinung waren, sie könnten mit ein bisschen Macht alles erreichen, wurde von Sekunde zu Sekunde größer.
Ich war wütend auf diese Kriminellen UND auf meinen besten Freund, weil er offenbar mehr zu ihnen hielt, als zu mir. SEINER BESTEN FREUNDIN!!!
Wenn er mir heute nochmal über den Weg laufen sollte - ohne angemessene Entschuldigung - würde ich ihn in die Luft jagen. Und das war mein voller Ernst.
Wütend zog ich meine Hose über meine Beine und achtete nicht darauf, dass sie durch meinen Bikini ebenfalls nass wurde.
Mir war in diesem Moment so wie so alles egal.
Schnell quetschte ich alle meine Sachen in meinen Rucksack, setzte mir meine Sonnenbrille auf die Nase und machte mich daran, nach Hause zu kommen.
Denn zu Fuß war ich mit Sicherheit mehr als drei Stunden unterwegs. Danke Tino! Hättest du mir nicht wenigstens deine Autoschlüssel geben können?
Außerdem lag unser Haus in einem BERGdorf, was so viel hieß wie, ich musste auch noch steil bergauf latschen.
So machte ich mich - gezwungenermaßen - zu Fuß auf den Weg nach Hause.
Bekleidet mit meiner Jeans, einem dünnen Oberteil, meiner Sonnenbrille auf der Nase und ziemlich kletterungünstigen Schuhen. Mal ganz abgesehen von dem Rucksack auf meinem Rücken, der gefühlt mit jedem Schritt schwerer wurde, wegen des nassen Handtuches darin.

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