Kapitel 8 - Frustriert im Regen

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Fassungslos blickte ich auf die Straße und versuchte zu begreifen, was da gerade passiert war.
Der Kerl war doch wahnsinnig! Ein totaler Psycho!
„Dann bereitete dich vor." Seine Hand löste sich von meinem Arm und er trat zurück an die Fahrertür seines Wagens.
„Für was?", rief ich.
„Mir zur Verfügung zu stehen.", antwortete er nur.
Kraftlos ließ ich meinen Rucksack fallen und setzte mich auf die Kante des Bordsteins.
Mein Körper bebte und ich musste mich auf meine Hände setzten, um nicht total durchzudrehen.
Was wollte er denn von mir? Was hatte ich ihm denn getan?
Mehrmals atmete ich tief durch und schaffte es allmählich mich zu beruhigen. Kopfschüttelnd beobachtete ich das alltägliche Treiben um mich herum. Die Menschen lebten einfach so vor sich hin ohne zu sehen, wie kalt und grausam diese Welt doch sein konnte.
Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Erschreckt zuckte ich zusammen und wollte losschreien, doch die Stimme einer Frau beruhigte mich.
„Alles gut!", versicherte die alte Dame mir und ließ sich neben mir nieder. „Er ist weg."
Ihr Gesicht war von tiefen Furchen geprägt und um ihre Augen fanden sich unzählig viele kleine Lachfältchen. Ihre dunklen Haare hatten bereits einen grauen Ansatz. Ihre Haut war blässlich und ihre Finger knochig. Dennoch strahlten ihre Augen als wäre sie erst jetzt im Leben angekommen.
Dankbar nickte ich ihr zu.
„Ich habe euch gesehen." Sie deutete mit ihrem dünnen Zeigefinger auf die Stelle an der Francesco bis vor wenigen Augenblick noch gestanden hatte.
„Es tut mir leid, falls wir irgendwie ihre Kundschaft verjagt haben sollten.", entschuldigte ich mich und fuhr mir mit wackeligen Fingern durch die Haare.
Sie lächelte mild und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach das macht doch nichts. Ich bin übrigens Carla." Sie grinste mich breit an und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern.
„Freut mich. Ich bin Mina." Lächelnd blickte ich sie an. „Carla, darf ich dich etwas fragen?"
Sie nickte und blickte in den Himmel, der mit jeder Sekunde finsterer wurde. „Natürlich."
„Warum kannst du so gut deutsch?" Ich wusste nicht warum ich eine Fremde so nah an mich ranließ, aber mir war alles Recht. Hauptsache ich musste nicht mehr an Francesco und seine Drohung denken.
„Äh..." Sie kratzte sich am Kopf und dachte einen Moment nach. „Mein Vater. Mein Vater er war deutscher. Meine Mutter hat italienisch mit mir gesprochen und mein Vater deutsch. Er war ein toller Mann."
„Oh.", machte ich nur, als ich die Traurigkeit in ihrem Gesicht sah. „Das tut mir wirklich leid. Aber dafür ist dein Deutsch perfekt."
„Ist lange her." Sie blinzelte ein paar Mal und schon war es als wäre nie etwas gewesen.
„Wichtige Momente sind nie lange her.", sagte ich nur leise und beobachtete aufmerksam den Himmel und die dunklen Wolken, die schnell näher kamen.
Sie knuffte mich in die Seite. Dann stand sie auf, wobei ihre Knie laut knacksten.
„Da hast du wohl Recht. Darum sag mir, was treibt ein so schlaues Mädchen wie dich in die Fänge eines solchen Monsters?", wollte sie wissen und stemmte die Hände in die Hüften.
Einen Augenblick blieb ich still. „Ich weiß es nicht. Er sieht offenbar etwas in mir, dass ich selber nicht sehe."
Sie lächelte gutmütig. „Ich denke ich kann ihn verstehen."
„Was?", fragte ich und drehte mich zu ihr, doch da watschelte sie bereits mit gebeugtem Rücken in ihren kleinen Supermarkt. „Carla?"
Über mir grummelte es bedrohlich. „Na klasse!", zischte ich und folgte der alten Dame schnell ins Warme.
Sie stand hinter ihrer Verkaufstheke und schob gerade eine Flasche Wasser in meine Richtung. „Hier. Nimm sie mit. Das war doch das wofür du eigentlich gekommen warst."
Nickend ergriff ich die Flasche und suchte in meiner Hosentasche nach meinem letzten Kleingeld.
„Nein!", wehrte sie ab, als ich das Geld auf den Tisch legte. „Bitte! Steck das wieder ein und geh. Du hast noch einen weiten Weg vor dir, vielleicht wirst du es brauchen."
Es gefiel mir nicht, die Münzen wieder einstecken zu müssen, doch Carla blieb hart.
„Ich danke dir.", verabschiedete ich mich, als sie mich zur Tür geleitete.
„Nein." Sie schüttelte den Kopf und legte mir ihre Hand auf den Arm. „Ich danke dir. Du hast mir gezeigt, was es heißt ein starkes Herz zu haben und ich dachte schon, dass solche Menschen ausgestorben wären. Aber du hast mich wieder daran erinnert, dass es doch noch Wunder gibt." Sie zwinkerte mir zu und tätschelte meinen Handrücken, ehe sie mich sanft aber dennoch bestimmt aus dem Laden schob und die Tür hinter mir schloss.
„Grazie!", rief ich durch das Glas. Sie lächelte nickend und winkte.
Dann wandte ich mir herum und atmete tief durch, als ich die dunkle Wand vor mir sah. Das Wetter in den Bergen konnte sich schlagartig ändern. Natürlich musste es gerade dann gewittern, wenn ich noch zwei Stunden Fußmarsch vor mir hatte.
„War ja wieder klar.", flüsterte ich und machte mich auf den Weg. „Danke Leben! Ein kleines bisschen Glück für mich, ist wohl nicht möglich."
Eine Stunde später war ich komplett durchnässt und meine Laune hatte ihren absoluten Tiefpunkt erreicht. Ich war ungefähr auf der Hälfte des Berges, aber der Weg war beschwerlich und ich konnte nicht mehr.
Der Regen peitschte mir ins Gesicht und der Wind riss an meinen durchnässten Klamotten.
Bei jedem Schritt den ich machte, gaben meine Schuhe ein widerlich saugendes Geräusch von sich.
Tapfer marschierte ich weiter und ging in Gedanken jeden einzelnen Weg durch, wie ich Tino umbringen würde, wenn ich ihn das nächste Mal sah. Denn das würde ich! Oh ja! Ich würde ihn erwürgen! Danach erstechen! Dann vergiften! Und seine Leiche würde ich in unseren kleinen Bach werfen, damit die Strömung seinen leblosen Körper forttrieb. Weit fort!
Als ich das dritte Mal ausrutschte hatte ich die Nase gestrichen voll. Wütend riss ich mir die Schuhe von den Füßen und warf sie wild schreiend in das nächste Gebüsch.
„Ich hasse euch!", brüllte ich und hüpfte wie eine Wahnsinnige auf der Stelle. „Ich hasse diese Schuhe! Ich hasse diesen Urlaub! Ich hasse dieses scheiß Wetter! Ich hasse meinen besten Freund! UND ICH HASSE DIESEN TOLLWÜTIGEN MACHTGEILEN FRANCESCO!!!" Ja man konnte sagen, ich war am Ende.
„DANKE LEBEN!", schrie ich und ging in die Knie. „DANKE DAFÜR, DASS DU MICH SO SEHR HASST! ICH HAB ES VERSTANDEN!" Mit jeder Silbe wich meine Wut und hinterließ nichts als eine schmerzhafte Leere.
Schluchzend saß ich am Straßenrand im Gras und heulte mir die Augen aus. Auch wenn ich wusste, dass es nichts an meiner momentanen Situation ändern würde.
Als all die angestauten Emotionen langsam verpufft waren, fühlte ich mich tot. Wie lebendig begraben. Ich bekam zwar alles noch mit, aber es ließ mich einfach kalt.
Still liefen mir die Tränen über das Gesicht, als ich mich aufraffte und weiter dem Weg folgte.
Jetzt war ich dankbar über den Regen, er vermischte sich mit meinen Tränen und trug sie fort.
Ich hatte keine Ahnung wie lange ich so vor mich hin marschierte. Ohne einen einzigen Gedanken zu fassen. Mein Kopf war so leer, wie mein Herz. Wäre in diesem Augenblick die Welt untergegangen, so hätte es mich wahrscheinlich nicht einmal annährend schockiert.
Meine Füße schmerzten bei jedem Schritt und meine Lungen arbeiteten auf Hochtouren.
Ob ich es bereute meine Schuhe weggeworfen zu haben? Nein! All das was ich gerade machte und sei es noch so bescheuert, es zeigte mir, dass ich am Leben war. Zuhause hatte ich so oft darüber nachgedacht, warum ich überhaupt lebte. Was hatte es einen Sinn zu leben, wenn man es doch eigentlich gar nicht tat? Tag ein Tag aus immer das Gleiche. 365 Tage im Jahr.
Und in dieser Sekunde - mit jedem Schritt, den ich machte - merkte ich, dass ich lebte! Es war vielleicht schmerzhaft, aber es brachte mir Klarheit.
Traurig eigentlich, dass ich dazu erst von meinem besten Freund verlassen werden musste, mich mit einem Drogenboss anlegen und dann mitten durch das schlimmste Gewitter aller Zeiten nach Hause laufen musste, um das zu begreifen.
Nach langer Zeit sah ich es endlich. Mein Ziel. Unseren Ferienort. Mein Bett und mich trennten vielleicht noch drei, vier Kilometer.
Erleichtert seufzte ich und stützte mich auf den Knien ab, um kurz Luft zu holen.
Fast geschafft.
Langsam rappelte ich mich auf und wanderte weiter.
Der Himmel über mir war schwarz. Donner ließen in unregelmäßigen Abständen die Erde erzittern und kurz darauf erleuchtete ein Blitz das Ganze.
Keine Menschenseele war zu sehen, als ich auf den Parkplatz trat.
Meine Haare klebten mir im Gesicht, als ich mich umsah.
Ein bitteres Lächeln legte sich auf meine Lippen, als ich Tinos roten Alfa sah, der sicher geparkt ganz hinten auf einem der freien Plätze stand.
„Du wirst meine Rache schon zu spüren bekommen.", versprach ich dem Wagen und schaute ihn böse an.
Dann wandte ich mich ab und machte mich daran, durch die dunklen unbelebten Gassen nach Hause zu schleichen.
Vorsichtig ging ich den steil ansteigenden Weg hinauf und versuchte nicht auf den unebenen, nassen Steinen auszurutschen.
Über mir grollte das Unwetter und ließ mich das ein oder andere Mal Schutz in den Schatten suchen, da ich nicht wusste ob es wirklich nur ein Donner war. Immerhin war es dunkel und was das bedeutete, musste ich ja wohl nicht mehr groß erläutern.
Gerade als ich den ersten Gang hinter mir gelassen hatte und auf dem großen Dorfplatz stand, ertönte ein komisches Geräusch und ich sprang in die rettende Dunkelheit. Es hatte fast geklungen wie eine Fehlzündung.
„Es war nur ein Donner.", beruhigte ich mich flüsternd. „Nur ein Donner."
Langsam wagte ich mich aus meinem Versteck und rannte so schnell ich konnte über den Platz.
Hinter mir ertönte ein lautes Heulen und ich blickte gehetzt zurück.
Leider übersah ich dabei, dass ich nicht die einzige war, die schnell einen Weg ins Trockene suchte und übersah dabei leider, das Moped das im gleichen Moment wie ich um die Ecke jagte.
Frontal prallten wir in einander und ich wurde zurückgeschleudert.
Dann knallte ich auf den Boden und das letzte Bisschen Luft wurde mir aus den Lungen gedrückt.

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