Kapitel 10 - Das Verlassene Lokal

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Als ich am nächsten Morgen in die Küche tapste und dabei versuchte nicht über meine eigenen Füße zu fallen, war das Haus bereits leer.
Der Rest meiner Familie war offenbar schon unterwegs.
Sollte mir nur Recht sein. So konnte ich alle Fragen, bezüglich meiner nächtlichen Abwesenheit umgehen.
Langsam, mit einer Tasse Tee in der Hand, schlenderte ich auf die Dachterrasse und ließ mich auf einem der Korbsessel nieder.
Meine Haare standen mir wirr vom Kopf. Dunkle Schatten lagen unter meinen Augen. Blau-Lila Flecken zierten mein Hals. Kurz: Ich sah aus wie der perfekte Zombie von nebenan.
Matt klammerte ich mich an meine Tasse und zog die Beine an den Körper.
Die Sonne kroch gemächlich über die Berge, auf die ich blickte und weckte die Menschen. Irgendwo im Dorf bellte der erste Hund und kurz darauf konnte man eine Katze laut fauchen hören.
Als die Sonne schließlich die Schatten durchbrach und sich warm auf mein Gesicht legte, lächelte ich unwillkürlich.
Für ein paar wenige Minuten, war mein Kopf leer und ich dachte einfach mal an gar nichts.
Das laute Knattern von einem dieser dreirädrigen Piaggio-Dinger riss mich schließlich aus meiner Phase des Erwachens.
Kopfschüttelnd sah ich zu, wie das Gefährt sich den Berg hinaufquälte und irgendwann einfach aus meinem Blickfeld verschwand.
Das laute Poltern, des dazugehörigen Motors war allerdings noch lange zu vernehmen.
Genau konnte ich nicht sagen, wie lange ich auf meinem Platz saß und in die Berge hinaussah. Erst als der letzte Tropfen des Tees meinen Magen erreicht hatte, raffte ich mich auf und stieg unter die Dusche.
Danach sprang ich in einen einfachen olivgrünen Jumpsuit und flocht meine Haare von der Stirn bis hinters Ohr zu zwei engen Strähnen.
Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass der Bus zur Stadt in knapp fünfundzwanzig Minuten kommen würde.
Also noch genug Zeit.
Vorsichtig packte ich meinen Laptop in meinen Rucksack und schlüpfte in meine Sandalen.
Heute würde ich mich ganz dem Schreiben widmen.
Aufmerksam hüpfte ich die ungleichen Treppen unseres Hauses hinunter und hielt erst vor der dunklen Haustüre inne. Ein weißer Zettel klebte darauf und ich schmunzelte, als ich die chaotische Handschrift meiner Mutter sah.

Guten Morgen Liebes,
Wir sind heute in Frankreich unterwegs.
Kann sein, dass es sehr spät wird, bis wir wieder da sind.
Ich hab mit Alessia gesprochen: Du kannst mit Tino bei ihr im Lokal essen.
Er ist so ein guter Junge.
Also bis heute Abend, bau keinen Unsinn und pass auf dich auf.
Mama

Ich seufzte, nahm den Zettel von der Tür und legte ihn in das kleine Regal neben mir.
„Wenn du wüsstest..." flüsterte ich und schlüpfte aus dem Flur auf die enge Straße.
Guter Junge! Pah, dass ich nicht lache!
Dieser gute Junge hat mich gestern einfach alleine mitten im Nirgendwo stehen lassen...
Dieser gute Junge ist Schuld daran, dass ich aussehe als wäre ich vergewaltigt worden...
Dieser gute Junge ist Laufbursche eines Mörders...
Was ein guter Junge... Wirklich!
Genervt schob ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Auf meinem Weg dahin, traf ich – Gott sei Dank – nicht so viele Menschen. Ab und zu begrüßte ich ein paar ältere Herren oder Damen auf Italienisch und beschleunigte dann meine Schritte um ja nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden, bei welchem ich eh kein Wort verstand.
Während ich über den Parkplatz huschte, konnte ich es mir nicht verkneifen, dem roten Alfa von Tino einen bösen Blick zu schicken. Der Gedanke an das Geräusch, dass mein Schlüssel in dem schönen Lack machen würde, war wirklich himmlisch.
Meine Rache würde ich schon noch bekommen.
Wenig später hielt bereits der kleine Bus vor meiner Nase und öffnete seine Türen.
Auf Englisch versuche ich dem Fahrer zu erklären, was für eine Fahrkarte ich kaufen wollte. Doch er sprach nur Italienisch und so sparte ich mir mein Geld, denn irgendwann begannen wir beide zu lachen und er deutete mir, dass ich mich einfach setzen sollte.
Ich bedankte mich und ließ mich auf die hinterste Reihe fallen.
Viel zu schnell für ein so altes Fahrzeug auf so kurvigen, engen Straßen bretterten wir den Berg hinab. Wenn ein anderes Auto von vorne kam, wurde sich per Hupe verständigt, wild gestikuliert und geflucht.
Würde ich das alles nicht bereits kennen, wäre mir spätestens in dem Moment schlecht geworden, in dem ein Transporter uns entgegenkam und wir rückwärts wieder ein Stück am Abgrund entlang zurückfahren mussten.
Trotzdem war ich froh, als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Der Busfahrer winkte mir zum Abschied und ich grinste.
Dann wandte ich mich herum und stürzte mich ins Getümmel der Stadt.
Zwischen den großen Ständen, der alten Markthalle, kaufte ich mir zwei frittierte Auberginen, die im eigenen Fett ertranken, aber unvergleichlich schmeckten.
In einer ruhigen Ecke verschlang ich beide und versuchte mich nicht mit dem Fett zu bekleckern, wobei ich natürlich kläglich scheiterte.
Danach quetschte ich mich wieder in die Menge und gönnte mir zum Nachttisch noch zwei kleine Himbeerküchlein.
Schmatzend lief ich vorbei an den überfüllten Touristenstränden und den chaotischen Lokalen und war für einen Moment unglaublich dankbar, nicht mit diesem Massentourismus aufgewachsen zu sein.
Hinter einem leerstehenden Restaurant, kletterte ich schließlich über die Brüstung und ließ mich auf einem großen Felsen am Wasser nieder.
Der perfekte Ort zum Schreiben.
Seufzend strich ich mir eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich wohl gelöst hatte, ehe ich meinen Laptop hervorkramte und ihn startete.
Mehrere Stunden saß ich einfach nur dort und schrieb.
Über die Rolle eines Menschen.
In der Familie.
Der Liebe.
Dem Job.
Und und und...
Ich schreckte erst auf, als eine Möwe über laut kreischte.
Überrascht stellte ich fest, dass die Sonne bereits unterging. Hatte ich wirklich so lange gearbeitet? So eine gute Phase hatte ich schon lange nicht mehr. Meine Leser würden sich freuen.
Außerdem hatte ich die ganze Zeit nicht einmal an Tino, Francesco und den Unbekannten von letzter Nacht gedacht.
Das Plätschern des Wassers unter mir riss mich schlussendlich sanft aus meinen Gedanken.
Schnell zog ich meine Sandalen aus und krempelte den Stoff meiner Hose bis knapp unter die Knie. Dann kletterte ich vorsichtig über ein paar andere große Steine und Felsen, bis ich schließlich meine Füße ins Wasser halten konnte.
Entspannt blickte ich der Sonne zu, wie sie in einer Explosion aus Farben ein letztes Mal für den heutigen Tag zu sehen war.
Rot, Orange, Gelb und teilweise sogar lila leuchtete der Himmel und bot ein wunderschönes Schauspiel.
Bevor es gänzlich dunkel werden konnte, erklomm ich meinen ursprünglichen Platz wieder, schlüpfte in meine Schuhe, schulterte meinen Rucksack, steckte mir Kopfhörer und Handy in die Hosentasche und hievte mich über die Brüstung auf die leere Terrasse des einstigen Lokals.
Ein wenig unheimlich wirkte das flache Gebäude ja schon. Die Fenster wirkten wie schwarze Löcher und ich wollte gar nicht wissen, wer oder was sich da hinter gerade alles befand.
Chaotisch lagen alte Tische und Stühle herum und überall dazwischen Müll.
Aber neugierig war ich trotzdem. Das ganze musste einst mal ein sehr schönes Restaurant gewesen sein.
Kein typisches Strandlokal.
Nicht unbedingt für Touristen.
Eher ein Geheimtipp, für Menschen, die etwas Gutes suchten.
Gott, meine Fantasie ging mit mir durch...
Ich schüttelte den Kopf, riss mich von dem Gebäude los und ging Richtung Straße.
In dem Moment, in dem jedoch auf den beleuchteten Gehweg trat, fluchte ich und drehte mich um. Ohne einen Blick hineingeworfen zu haben, würde ich hier nicht weggehen. Fertig!
Natürlich wusste ich, dass das was ich gerade im Begriff war zu tun, Leichtsinnig war. Mehr als das. Was wenn Einsturzgefahr bestand?
Wenn ich mich irgendwie verletzte?
Oder jemand darin wohnte?
Und dieser jemand nicht freundlich war?
Mit einer wirren Handbewegung wischte ich all diese Gedanken fort und zog mein Handy aus der Hosentasche.
Die Taschenlampe darauf war schnell gefunden und keine Minute später, stieß ich mit klopfendem Herzen die vergilbte Holztür auf.
Dunkelheit blickte mir entgegen.
Langsam trat ich ein und leuchtete um mich herum. An den alten Wänden hingen schiefe Regale, deren Inhalt sich über den Boden verteilt hatte.
Ausgeblichene, nasse verschwommene Fotos hingen an den Wänden.
Dreck und Müll lag zwischen Glasscherben auf dem Boden und zeigten wie runtergekommen hier alles tatsächlich war.
Bei jedem meiner Schritte knirschte es unter meiner Sohle und ich hielt jedes Mal die Luft an.
Der Flur endete auf der rechten Seite in dem großen Speiseraum, den man auch von draußen sehen konnte. Verstaubte Flaschen lagen überall verteilt. Teils heil, teils in zig Teile verstreut.
Von der Straße strahlte matt ein wenig Licht hinein. Aber dieses bisschen Helligkeit reichte, um das Ausmaß von Verwüstung zu beleuchten.
Mit roter Farbe waren irgendwelche italienischen Sprüche an Fenster und Wand gesprayt worden.
Auf der anderen Seite des Flurs befand sich die Küche und diese war der wohl unheimlichste Ort.
Das einstige Silber der Schränke hatte größtenteils eine rost-rötliche Färbung und überall waren Schatten, durch die man nicht einmal erahnen konnte, was sich in ihnen befand.
Ich schluckte und hatte gerade beschlossen, dass ich genug gesehen hatte, als ich plötzlich eine Bewegung zwischen zwei großen Stahlschränken in der Küche ausmachte.
Sofort erstarrte ich.
Meine Hände zitterten.
Da war nichts, versuchte ich mir zu sagen. Da war gar nichts. Nur eine gemeine Täuschung meines wirren Kopfes. Mehr nicht.
Das laute Scheppern von Töpfen, die auf den Boden fielen, überzeugte mich dann allerdings davon, dass das hier keine Illusion meines eigenen Kopfes war.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Puls schoss augenblicklich in die Höhe.
Vorsichtig wich ich zurück.
Zurück von der offenen Küchentür.
Weg von der Person, die sich in dem Raum befand und in den Schatten lauerte.
Mit bebenden Fingern schaltete ich meine Taschenlampe aus und presste mich mit dem Rücken an die Wand hinter mir. Hoffentlich hatte er mich nicht gesehen.
Das einzige Geräusch war mein eigener Atem. Und selbst dieser schien viel zu laut...
Gott, ich hätte einfach gehen sollen.
Ich hätte einfach einen anderen Platz zum Schreiben suchen sollen.
Auf einmal schienen mir die belebten Touristenmeilen eine gute Idee.
Regungslos verharrte ich an meiner Stelle und überlegte ob kreischend hinauszustürmen wohl eine gute Möglichkeit war.
Wahrscheinlich war es sogar die sinnvollste. Zumindest sinnvoller, als hier zu stehen und mit großen Augen in die Dunkelheit zu schauen und darauf zu warten, umgebracht oder vergewaltigt zu werden.
Dann waren da auf einmal Schritte.
Ich drückte mich noch enger an die muffige Wand.
Ich wollte rennen. Schreien. Flüchten. Einfach nur weg hier.
Trotzdem war es, als wären meine Füße hier verankert. Keinen Meter konnte ich mich bewegen.
Und dann waren sie plötzlich da.
Vielleicht zwei, drei Meter von mir entfernt.
Ein paar Augen.
In den Schatten, der Küche.
Hellbraun, mit einem hellen Streifen.
Das war der Moment, in dem mein Herz aussetzte. Einfach so. Puff. Weg. Tot.
Schön wärs.
Unregelmäßig entwich der Atem meinen Lippen, während ich einfach nur dastand und betete, dass ein Wunder geschehen würde.
Wie lange ich dort stand und einfach nur in diese körperlosen Augen blickte, konnte ich nicht sagen. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und ich wollte nur noch weinen.
Auch wenn ich tief in meinem Inneren wusste, dass die Person, zu der diese Augen gehörten, mir nichts tun würde.
Warum, ich dieser Meinung war, konnte ich nicht sagen. Es war eine Ahnung.
Ein Gefühl.
Vielleicht lag es daran, dass ich diese Augen irgendwo her kannte. Zumindest redete ich mir das ein.
Irgendwann bemerkte ich eine Bewegung in den Schatten und eine Hand wurde mir entgegengehalten.
Ich hielt die Luft an.
Die Hand kam näher. Doch noch immer konnte ich die dazugehörige Person nicht erkennen.
Mein Blut rauschte in meinen Ohren und meine Welt drehte sich, während die Finger noch näher kamen. Wenn ich nichts unternahm, würden sie gleich meine Wange berühren.
Ich wollte nur noch raus hier. Weg. Ganz weit weg.
In mein Bett. Zu meiner Familie.
Aber nicht der kleinste Schritt gelang mir.
Dann flog auf einmal die Eingangstür auf. Laut knallte das Holz, gegen die Steinwand.
Ich schrie.

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