Kapitel 4 - Erklärung

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Mein Sichtfeld bekam bereits schwarze Punkte und ich war eigentlich schon dabei mich von meinem Leben zu verabschieden, als eine weitere Stimme von den Mauern hallte.
„Weg von ihr!", befahl die körperlose Stimme. „Sie steht unter meinem Schutz."
Ein dunkler Schatten tauchte neben uns auf.
Für mich war es jedoch zu spät. Meine Welt drehte sich und mir wurde schlecht.
Plötzlich bekam ich wieder Luft, aber da fiel ich bereits zur Seite.
Ich hörte noch wie jemand auf Italienisch fluchte.
Was danach passierte? Keine Ahnung.
Bewusstlos lag ich friedlich auf dem Boden vor der Kirche, mitten auf dem Dorfplatz.

„Mina!", hörte ich eine Stimme. Doch sie schien weit weg. Ziemlich weit weg.
Ich brummte unglücklich und wickelte mir meine Decke fester um den Körper...
MOMENT MAL!!!!
Schlagartig sprang ich auf und sah mich um.
Unter mir war meine weiche Matratze. Über mir hing dieselbe Lampe, die hier schon hing seit ich denken konnte.
Ich war Zuhause. Warum war ich Zuhause? Wie war ich hier hergekommen?
Hatte ich all das nur geträumt?
„Mama?", fragte ich und zuckte zusammen, als ich sprach. Jedes Wort tat mir ihm Hals weh.
Das alles – ich meine die letzte Nacht! Auf dem Dorfplatz! Der widerliche Mann! – Das konnte doch nicht einfach nur ein Traum gewesen sein.
„Ja mein Schatz.", antwortete sie und sah mich besorgt an. „Ist alles in Ordnung? Wir versuchen schon seit Stunden dich aufzuwecken. Tino ist auch schon hier. Er hat mir erzählt was gestern passiert ist. Er macht sich auch Sorgen."
Verwirrt fasste ich mir an die Stirn. „Wieso? Was... Was ist denn passiert?"
„Weißt du das denn gar nicht mehr? Ihr wart oben an der alten Burgruine und du bist gestürzt. Tino wollte dich noch festhalten, hat dich aber nur noch am Hals erwischt.", erklärte sie, während ich noch immer steif in meinem Bett saß.
„Stimmt.", sagte ich nach ein paar Minuten und blickte zu meiner Ma.
„Geht's dir gut? Eigentlich wollten dein Vater, deine Schwester und ich jetzt nämlich los und ein bisschen bummeln gehen in der nächsten Stadt. Aber ich meine, wir müssen nicht. Wenn du sagst, du möchtest nicht alleine...", brabbelte sie drauflos und umfasste mein Gesicht mit ihren großen Händen.
„Mama.", ermahnte ich sie, aber sie redete einfach weiter.
„Es ist wirklich okay. Dein Vater und Ann-Kathrin können auch alleine fahren und ich bleibe einfach hier."
„MAMA!", lachte ich. „Es geht mir gut. Sieh zu das du wegkommst und die Sonne genießt. Tino und ich hatten eh was anderes vor."
„Sicher?", fragte sie mich nochmal.
Ich nickte und verdrehte die Augen. „Ganz sicher."
„Danke, meine Große. Bis später und halt dich dieses Mal ein bisschen zurück." Sie drückte mir einen Kuss auf die Stirn, stand auf und rauschte aus dem Zimmer.
Sobald sie aus dem Zimmer verschwunden war, sprang ich auf und rannte beinahe ins Bad.
„Oh verdammt!", stöhnte ich und blickte auf die großen blau-lilafarbigen Flecken auf meinem Hals.
Ein Klopfen am Türrahmen ließ mich herumfahren. Etwas zu schnell, denn alles drehte sich und ich taumelte.
Bevor ich jedoch fallen konnte, schlang sich eine Hand um mein Handgelenk und hielt mich.
„Danke.", hauchte ich erleichtert und ließ mich auf den Klodeckel fallen.
„Immer gerne.", antwortete Tino und setzte sich mir gegenüber auf den Badewannenrand.
Einige Zeit saßen wir einfach nur so da und blickten einander an.
In den Augen meines besten Freundes lag so etwas wie Reue.
„Wieso habe ich nur das Gefühl, dass du ganz genau weißt, was gestern Nacht passiert ist, nachdem ich zusammengebrochen bin?", fragte ich ihn und beobachtete wie sein Blick ertappt zu mir huschte.
„Wie geht es dir?", stellte mir stattdessen die Gegenfrage.
„Wie soll es mir schon gehen?", lachte ich und fuhr mir durch die strubbeligen kurzen Haare. „Ich habe die Abdrücke eines Mannes auf dem Hals, der mich wahrscheinlich am liebsten vergewaltigt hätte, mein Kopf hat mit dem harten Boden mitten auf dem Dorfplatz Bekanntschaft gemacht und fühlt sich an, als würde er jede Sekunde explodieren, von meiner offensichtlichen Verwirrung mal ganz abgesehen.", fuhr ich ihn an und stand auf.
Vorsichtig lief ich die schmale Treppe nach oben und ließ ihn einfach im Bad sitzen.
Ja, ich war wütend. Und enttäuscht. Enttäuscht, dass er mir nicht einfach gesagt hatte, dass er tiefer in dieser Gang-Sache drinnen war, als ich geahnt hatte.
Sauer riss ich die Kühlschranktüre auf und schnappte mir den Orangensaft. Dann füllte ich mir ein Glas damit und marschierte nach draußen auf die kleine Dachterrasse. Von hier aus hatte meinen einen wunderbaren Blick über den unbelebten Teil des Berges. Man konnte ins Tal sehen und sogar auf den Nachbarberg. Es war wirklich ein einmaliger Blick, aber in diesem Moment hatte ich kein Auge für die Schönheit der Natur um mich herum.
„Mina!", rief Tino und ich hörte, wie er die Treppen hinaufkam. „Hör mir doch erstmal zu."
Ich schüttelte nur den Kopf und lehnte mich mit meinem Glas Saft zwischen den Händen auf die breite Balustrade.
Jeder Schluck, jedes Wort tat weh im Hals.
Dieser Mann von gestern Nacht: Er war doch krank.
Erst zerdrückte er mir fast den Hals und dann wollte er noch, dass ich ihm verriet wie viel mir mein Leben wert war. Woran er dabei gedacht hatte, war nicht schwer zu erraten gewesen.
„Ich wüsste nicht, warum.", schnaubte ich empört, als er sich neben mich stellte.
Sein Blick lag nur allzu deutlich auf mir. Aber das war mir egal.
„Vielleicht macht das Verstehen leichter." Er zuckte mit den Achseln.
„Was?", fragte ich und drehte mich nun doch zu ihm. „Was soll ich daran verstehen? Ich kann damit leben, dass du offenbar zu einer Bande Krimineller gehörst. Ebenfalls kann ich damit leben, dass du mit ihnen wohl über mich redest. ABER ich kann und ich werde nicht damit leben WOLLEN, dass du mich anlügst."
Schuldig sah er mich an. Aber er blieb still. Und das war es, was mich wahnsinnig machte.
„Weißt du, dass wäre eigentlich der Moment in dem du etwas dazu sagen müsstest.", meinte ich nur und sah ihn enttäuscht an.
„Was soll ich dir denn sagen? Oder wie? Wie hätte ich es dir sagen sollen? Hey Mina, ich wollte dir übrigens noch sagen, dass ich zu einer Bande gehöre, die sich Lupi neri nennt und halb Italien mit Drogen versorgt? Wenn es das ist, was du hören willst, dann bitte." Wenn er sich so aufregte, wie jetzt gerade, kam sein Akzent stärker zum Vorschein und ich schaffte es kaum ernst zu bleiben.
„Mann Minchen.", seufzte er und kam auf mich zu. „Es tut mir leid okay?"
Seufzend stellte ich mein Glas weg und breitete die Arme aus. „Komm her."
Ich sah wie erleichtert er war und konnte spätestens jetzt nicht mehr wütend auf ihn sein.
„Ich wollte es dir wirklich sagen, ich wusste nur nicht wie. Aber jetzt weiß ich, dass es ein Fehler war, dir gar nichts zu sagen.", nuschelte er in meinen Haare.
Ich lächelte an seiner Brust. „Tino?"
Er brummte.
„Ich hab's verstanden. Ich bin nicht mehr wütend.", erklärte ich.
Er atmete laut aus. „Grazie."
Ich kicherte. „Prego."

„Also nochmal.", forderte ich ihn ein paar Stunden später auf. Wir saßen noch immer hier oben auf der Terrasse. Es gab so viel zu erklären und zu besprechen.
Viel konnte bzw. wollte Tino mir vom Leben einer kriminellen Gang gar nicht erzählen. Zu meinem eigenen Schutz, verstehe sich...
„Du bist nur in dieser Gang um die Schulden deiner Mutter zu bezahlen?", fasste ich seine Erzählung von zuvor zusammen.
Tino nickte.
„Wow." Ich schluckte. „Wie hoch sind die Schulden?"
Er kniff die Augen zu und rechnete leise. „Anfangs waren es knapp 59.000 Euro."
Geschockt blickte ich ihn an. „Bitte was?"
Mein Freund nickte nur. „Tja jetzt sind wir bei 11.000, was dann doch ein anderer Betrag ist."
„Okay...", meinte ich und nickte. „Woher kommen denn die Schulden?"
„Wir hatten letztes Jahr so viele und heftige Gewitter und nun ja. Die Küche hat es dabei zerlegt. Und ohne Küche, könnten wir das Restaurant schließen. Tja und irgendwie hat Francesco, der BigBoss, davon Wind bekommen und hat gesagt, er würde das Minus begleichen, wenn ich für ihn ein paar Botengänge oder Jobs erledige. Und seitdem ist ein Leben ohne die Jungs für mich gar nicht mehr vorstellbar."

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