Kapitel 10 - "2 Minuten."

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"Hallo Schatz. Wie geht es dir?", ertönt es aus dem Telefon und ich fühle mich beim Klang der Stimme meiner Mutter gleich wohler. Ich kann mich noch genau dran erinnern wie es auf Klassenfahrten und anderen Reisen ohne meine Eltern war. Ich war schon immer ein Mensch, der eher zuhause bleibt und sich dort wohlfühlt, wo die Familie ist.

" Hey Mom. Mir geht es gut und dir?", frage ich sie, während ich mich auf dem Bett ausstrecke. Ich höre wie es im Nachbarraum poltert und werfe der Wand, welche unsere Zimmer trennt einen kurzen Blick zu. Mein Blick malt ein mögliches Szenario aus, was gerade in Owens Raum Vorgehen könnte. Aus meiner Unterhaltung am Tisch vorhin mit Owen schließe ich, dass er gerade an ein paar Unterlagen von seiner Arbeit sitzt und diese durchstudiert. Mein Gehirn projiziert ein Bild, indem ein Ordner mit wichtigen Unterlagen von seinem Tisch gefallen sind und er sich nach ihnen bückt, um sie wieder aufzuheben.

"Mir geht es auch gut. Wie ist es so bei deinem Bruder?", fragt meine Mutter mich nun und ich höre wie mein Dad, der offensichtlich mithört etwas im Hintergrund sagt. 

"Es ist eigentlich ganz in Ordnung", sage ich und setze mich auf dem Bett auf. Ich streiche mir eine Haaresträhne aus dem Gesicht und unterdrücke einen Seufzer. Eigentlich möchte ich meinen Eltern nicht davon erzählen, dass Cole sich irgendwie verändert hat und nun nicht mehr so der alte Cole ist.

"Das hört sich aber alles andere als überzeugt an", ertönt es aus meinem Handy und bei der liebevollen, aber auch etwas besorgten Stimme meiner Mutter muss ich lächeln. Wahrscheinlich sitzt sie gerade mit Dad in unserem gemütlichen, kleinen Wohnzimmer mit dem Kamin und sie haben es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht, während sie sich nach dem Befinden ihrer Kinder erkundigen, die nun das erste Mal beide für einen längeren Zeitraum aus dem Haus sind. 

"Mom, ich vermisse euch ganz schrecklich." Aus irgendeinem Gruund steigen mir die Tränen in die Augen und ich muss schluchzen. Ich bin kein Mensch, der gerne alleine verreist. Ich hänge an meinen Eltern und hasse es, wenn wir getrennt sind.  
Ich würde gerade so gerne bei ihnen in unserem Wohnzimmer sitzen mit einer Tasse Tee in der Hand, wobei ich mich unter eine Decke kuschel und mich mit meinem Dad über das Wetter oder die Nachbarn, welche gerade wieder ihren Garten in letzter Sekunde umgestalten, unterhalte.

"Ach mein Kind. Du musst lernen auch mal ohne uns irgendwo zu sein. Irgendwann wird die Zeit kommen, da wird es uns nicht mehr geben und dann sind du und dein Bruder zuzweit alleine auf dieser großen, weiten Welt", sagt meine Mutter und ich streiche mir über die Wange, als sich eine Träne ihren Weg über meine Wange bahnt.

"Mom, das ist nicht hilfreich. Jetzt muss ich noch mehr weinen." Meine Mutter seufzt auf der anderen Seite und ich höre ein Rascheln, was womöglich daher kommt, dass der Telefonhörer den Träger wechselt.

"Sag mir Tochter, was ich dir seit Jahren immer wieder sage", fordert mich mein Dad auf und ich senke den Blick zu meinen Füßen, während ich mir die Worte meines Dads ins Gedächtnis rufe.

"Lebe nicht in dem, was eines Tages sein wird, sondern im hier und jetzt!"

"Genau und jetzt hör auf zu weinen, pack dich an die Nase und mach was draus", ertönt es von der anderen Seite und ich muss lächeln, während ich mich auf meine nächsten Wort vorbereite.

"Wortwörtlich?", frage ich meinen Dad, bevor ich mich an die Nase packe und und durch den Mund einatme, "Könnte komisch rüberkommen, wenn jemand jemandem begegnet, der sich die ganze Zeit die Nase zuhält."

"Du Quatschkopf", schimpft mein Vater und dann raschelt es wieder. Ich lasse meine Nase wieder zu, wische mir die letzten, leichten Tränen weg und lächle. Meine Mom will gerade etwas ansetzen zu sagen, da klopft es zunächst an der Tür, dann öffnet sie sich und anschließend betritt Cole mein Zimmer. 
Als er meine wohl noch roten Augen sieht, sieht er mich ebenfalls betrübt an und lässt sich ohne zu zögern neben mich aufs Bett nieder, um mir einen Arm um die Schultern zu legen und mich in eine geschwisterliche Umarmung zuziehen.
Ich höre wie die leise Stimme meiner Mutter aus dem Handy und gebe mit einem Handzeichen Cole zu verstehen, dass jemand am Telefon ist.

"... Und wie läuft das Studium deines Bruders? Hat er irgendwas diesbezüglich erzählt?", höre ich meine Mutter schließlich noch sagen, bevor sie verstummt.

"Mom, er ist gerade gekommen. Ich geb kurz ab", sage ich und reiche Cole das Handy, wobei er mich fragend mustert. 

"Mom und Dad. Sie vermissen dich", wende ich mich an ihn und beobachte wie er langsam das Handy an sein Ohr hebt. Er meldet sich kaum bei unseren Eltern und auch wenn sie denken sie verstecken es gut, aber als Kind merkt man, wenn es seinen Eltern nicht gut geht. Und meine Eltern leiden sehr darunter, wenn sie nicht wissen, was Cole so alles treibt. 
Aber ich denke so sind Eltern. Eltern passen auch ihre Nachkömmlinge auf und wollen ihn nur das Beste.

"Mom? Dad?", fragt er und lächelt anschließend. Es ist einen Moment still, dann lächelt er wieder und mein Herz erwärmt sich. Das ist genau das Lächeln, welches mein Bruder uns zuletzt zu seinem Abschied geschenkt hat, danach habe ich dieses Lächeln bei ihm niewieder gesehen. 
Ich lehne meinen Kopf an ihn und schließe die Augen, wobei die die Bewegung seiner Hand in meinen Haaren genieße.

**

"Moment. Mom, Dad, wir können gleich weitersprechen, aber ich muss kurz etwas erledigen", höre ich meinen Bruder in der Ferne sagen, während er mich möglicherweise gerade an der Schulter wach rüttelt. Langsam schlage ich die Augen auf und finde mich mit dem Gesicht auf seinen Beinen liegen auf meinem Bett in dem Gästezimmer vor. Offensichtlich bin ich wohl wie aus dem Nichts auf seinen Oberschenkeln eingeschlafen. 
Langsam richte ich mich auf und halte mir eine Hand vor den Mund als ich mir das Gähnen nicht unterdrücken kann. 
Ich sehe zu Cole, der die Hand mit dem Handy sinken lässt und ein Buch, welches auf dem Boden liegt und mir vorher noch gar nicht aufgefallen ist, aufhebt. Er reicht es mir und ohne etwas zu sagen nehme ich es entgegen, woraufhin ich es von allen Seiten kritisch betrachte. Es sieht sehr alt aus, aber ich keinerlei Hinweise, die auf den Herausgeber und Verfasser des Buches hinweisen können.

"Könntest du das Owen rüberbringen? Er hat mich geben es ihm zu bringen, aber dann hab ich einen kurzen Moment bei dir reinschauen wollen. Wenn du es ihm bringst, dann könnte ich in Ruhe weiter mit unseren Eltern telefonieren", sagt er und ohne drübernachzudenken stehe ich auf. 

"Telefonier ruhig", gähne ich wieder und sehe verschlafen zu der Tür, welche sich im Flur direkt neben meiner befindet. Ich schließe meine Tür und nachdem ich einen Moment gewartet habe, hebe ich die Hand und klopfe. Kurzdarauf ertönt ein kurzes, knappes 'Herein!' Ich öffne die Tür und nachdem ich in den Owens Zimmer getreten bin sehe ich ihn auch schon an seinem Schreibtisch vor seinem riesigen Bett sitzen. Auf dem Tisch liegen etliche aufgeschlagene Ordner und auch ein Teil des Bodens um den Tisch herum wird von ihnen bedeckt. 
Owen fährt sich mit einer Hand durchs Haare und dreht sich anschließend auf seinem Stuhl zu mir um. Ich schließe die Tür leise hinter mir und gehe langsam weiter in sein Zimmer, wobei ich es wieder muster - zumindest versuche ich so auszusehen wie jemand, der das erste Mal dieses Zimmer sieht beziehungsweise betritt.

"Wie kann ich dir helfen?", fragt er mich, wobei er der Knöpfe an den Ärmeln seines Hemdes öffnet und sie nach oben schiebt. Ich umrunde das Sofe und lasse mich anschließend darauf nieder, nachdem ich erfolgreich über die Ordern hinweggestiegen bin.

"Du - mir gar nicht, aber ich soll dir dies von Cole geben. Er telefoniert gerade mit unseren Eltern und kann dir deswegen dieses Buch nicht vorbeibringen", erkläre ich und reiche es Owen, der es mit einem dankenden Lächeln und einer geflüsterten Bedankung sich wieder seinen Unterlagen zuwendet. Ich sinke etwas weiter in die Kissen seines Sofas und muss feststellen, dass das Sofa gar nicht mal so unbequem ist. 
Wieder hebe ich eine Hand vor meinen Mund und kann mir das Gähnen nicht unterdrücken.
Ich werfe Owen einen letzen, prüfenden Blick zu, bevor ich die Augen einen Moment schließe. Zwei Minuten, dann werde ich aufstehen und in mein Zimmer zurückkehren. 
Mir fallen die Augen zu und ich spüre, wie ich langsam in das Land der Träume abdrifte.

Zwei Minuten, dann werde ich wieder aufstehen!

Nur zwei Minuten!


By Your Side *wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt