Kapitel 2

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Als ich ich die ersten Lichter der kleinen Stadt erblickte, ging im Westen bereits die Sonne auf.
Wie ein großes Feuer vertrieb sie die Dunkelheit um mich herum und wärmte mich.
Erst jetzt bemerkte ich, wie kalt mir gewesen war.
Mit schweren Schritten ging ich den vielen flackernden Lichtern entgegen und beobachtete, wie einige im Morgengrauen bereits erloschen.
Die Bäume wurden weniger und der Boden kahler, während ich mich den ersten hölzernen Hütten am Stadtrand näherte.

Ein salziger Geruch stieg mir in die Nase, als ich die vor den Häusern ausgelegten Fische begutachtete.
Es gab Unmengen dieser Ware - fast vor der Hälfte der Häuser sah ich kleine Ablagen, auf denen der Fang der letzten Nacht ausgebreitet lag.
Die Schuppen der silbernen Fische glitzerten in allen Farben des Regenbogens, während einige Jünglinge gerade die letzten Kisten des Fangs untersuchten.
Lehrlinge, dachte ich und beobachtete einen Jungen, dessen sehnigen, braunen Arme mehrere Rote Stellen aufwiesen, an denen sich die Haut schuppig ablöste.
Er schien in seinem Leben mehr Kontakt zu Salz- als zu Trinkwasser gehabt zu haben.
Ich schätzte ihn auf 12 Jahre, doch als seine strahlenden blauen Augen mich streiften, stutzte ich.
Noch nie hatte ich solche hellen Augen gesehen, die Iris grenzte im richtigen Licht schon fast an Weiß.
Seine Haare waren strohblond, so wie die aller Menschen, die ich bis jetzt zu Gesicht bekommen hatte.
Auch ich schien meinerseits die Aufmerksamkeit des Jungen auf mich zu ziehen, denn auch er stockte und hielt mitten in der Bewegung inne.
Als er meinem Blick begegnete, erschauderte er, senkte unterwürfig den Blick und ging wieder an die Arbeit.
Irritiert setzte ich meinen Weg fort, nun äußerst darauf bedacht, niemandem in die Augen zu sehen.

Irgendetwas an diesem Ort ließ mich erschaudern.

Als ich um eine weitere Ecke bog, drängte sich ein unstabil aussehendes Gasthaus in mein Sichtfeld.
Es sah sehr heruntergekommen aus, doch mich kümmerte das jetzt herzlich wenig.
Mit schnellen Schritten ging ich auf das zweistöckige Gebäude zu und öffnete die Eingangstür.
Im Innenraum schlug mir sofort eine Wand aus stickiger, warmer Luft entgegen.
Ich sah mich um und erblickte winzige Staubpartikel, die im warmen Licht, dass durch die Fenster des sonst unbeleuchteten Raumes drangen, einsam tanzen.
Aus einer hinteren Ecke des Raumes blickte mich ein Paar genauso helle Augen an, neugierig und stumm.

»Hallo«, sagte ich zögernd und legte ein paar Münzen auf den hölzernen Tresen, »Kriege ich dafür ein Zimmer für die Nacht?«

»... Ja, sicher. Die Treppen hoch, das zweite Links.«

Eine raue, leise Stimme antwortete mir mit einem merkwürdigen Akzent.

»Danke«, sagte ich schnell, griff nach dem rostigen Schlüssel, den mir eine runzlige Hand aus dem Dunkeln entgegenstreckte, und machte mich auf den Weg.
Die morschen Dielen knarrten unter meinen nackten Füßen und ich schloss erleichtert die Tür hinter mir.
Leise ausatmend betrachtete ich meine Umgebung.
Genau wie Unten erleuchtete keine Flamme den Raum, nur eine erloschene, fast heruntergebrannte Kerze samt feuchten Streichhölzern lagen auf dem Boden neben einem grauen, wackligen Bett.
An der Wand zu meiner Linken hing ein dreckiger Spiegel, der zuerst mein Interesse weckte.
Darunter stand ein Eimer mit ein wenig Wasser darin, der mir in Erinnerung rief, wie durstig ich war. Mit wackligen Schritten stellte ich mich vor den Spiegel und blickte mir selbst in die Augen.

In die hellen, grünen Augen.

Mit wachem Blick suchte ich mein Gesicht ab nach etwas, an das ich mich erinnerte, nach etwas, an dem ich mich festhalten konnte.
Doch es war, wie einem Fremden zu begegnen. Meine braune Haut war von Schmutz bedeckte, auf meiner geraden Nase prangte eine oberflächliche Schnittwunde.
Meine Lippen waren trocken und spröde, meine Haare in einem unordentlichen Zopf, braun und stumpf und vernachlässigt.
Langsam hob ich meine Hände und sah sie mir an.
Ich hatte schlanke Finger, deren Haut sich rau über die Knochen meiner Hände spannte.
Meine Schlüsselbeine stachen hervor, die Haut war ein wenig gerötet und trocken.
Einige Sekunden starrte ich mein eigenes Spiegelbild an.

Mein Name, dachte ich dann, wie heiße ich?

Auf diese Frage folgte nur Stille, eine ahnungslose, gespannte Stille, die mich verzweifeln ließ.

Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen.
Es war nicht sehr weich oder sauber, aber immerhin etwas.

Mit müden Augen sah ich einen Moment an die Decke und entdeckte einen kleinen, hölzernen Gegenstand. Ich richtete mich wieder auf, stieg auf das Bett und streckte die Hand nach der kleinen Figur aus.
Es war offenbar ein religiöser Gegenstand, vielleicht ein Talisman oder ähnliches.

Langsam drehte ich die Figur in meiner Hand, suchte nach Details oder Schriftzügen.
Ich erkannte einen Mann mit Bart, vom Wetter gegerbten Gesicht und einem weißen Gewand.
In der Hand hielt er einen Blitz, sein Gesicht zeigte Stolz und Macht. Um seine Kopf tanzten unruhige Gewitterwolken, seine Augen waren hell und blau.

Enttäuschung machte sich in mir breit.

In meinem Kopf herrschte Leere und das machte mich müde.
Ich ließ die Figur einfach neben das Bett fallen und steckte mich aus.
Schon nach wenigen Sekunden fielen mir gegen meinen Willen die Augen zu und ich gähnte.

Nun gut, sagte ich mir, ein bisschen Schlaf wird mir guttun.

Während ich in Dunkelheit versank, fand ich doch noch keine Ruhe.
Ein Name geisterte unaufhörlich durch mein Bewusstsein, störte meinen Traum eines unruhigen Meeres.
Die Wellen des Ozeans wurden heftiger und das laute Dröhnen des Wassers drang wie echt an meine Ohren.
Unfähig, aufzuwachen, konzentrierte ich mich stattdessen auf den Himmel. Eine graue Nebelsuppe hing über dem endlosen Meer, ließ mich erschaudern. Graue Sturmwolken türmten sich am Horizont auf und formten sich zu einer menschlichen Gestalt.
Eine dunkle Hand streckte sich mir entgegen und hüllte mich in Dunkelheit.

Zeus, hallte es in meinen Gedanken und ich schreckte aus meinem Schlaf hoch.

Fahles Sonnenlicht drang durch das einzige Fenster in den Raum und wärmte meinen Rücken.
Schnell atmend stand ich auf und griff nach der Figur.

»Zeus!«, sagte ich leise und betrachtete die Figur eindringlich. Natürlich!

Zeus, Herrscher des Universums, König der Olympier. Zeus, Gott des Himmels und der Königsmacht!

Was machte eine solch mächtige und wertvolle Figur in einem so einfachem Haus?

Der Gedanke klang fremd und fern in mir, doch es kümmerte mich nicht.

Eine weitere Erinnerung schob sich in mein Bewusstsein:
Die Olympier - irgendetwas regte sich da in mir.
Ich spürte alte und intensive Verbindung, etwas, dass ich schon vor langer Zeit tief in mir verankert hatte.

Ein unerschütterlicher Glauben, von dem mir schon von frühester Kindheit an erzählt worden war.

Mit jedem Detail, dass ich erhaschen konnte, mit jeder weiteren Erinnerung, die ich fand, wurde ich mir zunehmend sicherer.
Instinktiv griff ich an meinen Hals und fand eine aus dünnen Seil bestehende, elastische Kette.
Sie war fest an meinem Hals befestigt, außerdem zusätzlich an einer Schlaufe meiner Jacke.
Der Anhänger, dünn mit Bronze beschichtet, war ein spitzer Dreizack. Mit tauben Fingern berührte ich das Schmuckstück und begriff.

Mit schnellen Schritten verließ ich mein Zimmer und stürmte aus dem kleinen Haus.
Mein Herz klopfte wild, als weitere hellblaue Augenpaare meinen Schritten folgten.
Ich lief instinktiv zur Mitte der kleinen Stadt, dem Marktplatz, in dessen Zentrum auf einer kleinen erhöhten Plattform eine bronzene Statue des Zeus thronte.
Davor stand eine kleine Steintafel, die mit Runen beschriftet war. Ich las:

» ... und die Seemänner blickten in Frucht zum Himmel, denn dort, grau in Sturmwolken, zeigte sich ihnen der allmächtige Zeus. Er griff in den Himmel und brach ein Stück des Mondes, um es ihnen zu reichen. Das weiße Licht segnete die Männer und nach Zeus' Befehl gründeten sie den Ort Rhytkar.
Zeus gaben ihnen und ihren Kindern ein Stück Göttlichkeit; die blauen Augen, die den Himmel verkörperten. In folgenden Generationen trug der Segen des Götterkönigs sein Licht von Mutter zu Kind, drang zu jeder Haustür und erleuchtete die Leben derer, die er berührte.«

Rhytkar. Rhytkar!
Plötzlich verstand ich Bedeutung dieses Namens: »Von Zeus gesegnet«
Plötzlich verstand ich die Bedeutung von all dessen.
Der Blicke der Bewohner. Des Argwohns, der Zurückhaltung.

Ich trug das Zeichen eines anderen Gottes, ich war anders als die Menschen hier. Und das hieß:

Ich war in Gefahr.

Tochter der SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt