Kapitel 6

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-FREYA-

Ich wusste es nicht genau, doch ich schätzte, es war ungefähr Mitternacht.

Die Gefolgsleute des Offiziers schliefen bereits, folgerte ich, denn ich konnte sie nicht sehen oder hören und mit der Gefahr, erwischt zu werden, würde ihr Anführer das Risiko, mit mir gesehen zu werden, nicht eingehen.

Wir waren also ungestört.

Bei diesem Gedanken entwich mir ein unbeholfenes Lächeln.

Was sollte ich tun? Was wollte er von mir? Ich war so hilflos wie noch nie zuvor.

»Wie ist dein Name, hm?«

Ich spürte seine Hand an meiner Wange, bevor ich sie sah.
Ich war zu beschäftigt, mich zu erinnern und in die Leere in mir zu horchen, die diese Frage in mir hervorrief.

Mit rauer Stimme sagte ich: »Freya.«

Meine Antwort entlockte ihm ein wildes Lächeln, seine Augen blitzten förmlich.

»Hübscher Name«, sagte er und sah mir dabei in die Augen.
Er drehte den Kopf und sah mich lächelnd an, so, als würde er sein neuestes Spielzeug betrachten.

»Was wollt ihr von mir? Was soll das?«, fragte ich schnell und bewegte die steifen Handgelenke hinter meinem Rücken.
Ich wagte es nicht, seinen Blick zu erwidern.

»Du weißt es nicht? ... nun, ich glaube dir mal. Du bist zu schön für eine Lügnerin.«
Wieder lächelte er.

Er schien nichts anderes zu tun als das.

»In der Stadt gibt es Viertel. Das weißt du doch sicherlich«, bei diesen Worten legte er den Kopf schräg und sah mich an, »Viertel für die Reinen. Die Blonden, die Gesegneten.«

Er strich über meine Wange und sprach weiter.

»Dort leben sie. Dort arbeiten sie. Dort halten sie Sklaven. Sie tun alles, was ihnen gefällt.«

Sein Blick wurde warm, er sah mir mit halbem Lächeln in die Augen.

»Und dann gibt es Viertel für die Anderen. Die Dreckigen. Die Braunen, die Befleckten.«

Sein Blick sah fast fürsorglich aus, seine Finger strichen langsam über meine Schulter.

»Für Menschen wie dich.«

Er packte mich plötzlich hart am Arm, drängte mich nah zu ihm.
Sein Lächeln war erloschen und seine Augen kalt und hart wie Stein.
Er spuckte die nächsten Worte förmlich in mein Gesicht:

»Du bist ein Niemand, hörst du? Ein Nichts! Wie kannst du es wagen, dir einzubilden, du wärst etwas anderes als das?«

In seinen Augen glitzerten Tränen, er atmete schwer.
Langsam ließ er seine Hand sinken und hinterließ rote Spuren auf meiner Haut.

Unschuldig lächelnd sah er mich an.
Sein Blick war leer, sein Lächeln sah traurig aus.
Er sammelte sich, beugte sich zu mir und hauchte in mein Ohr:

»Gute Nacht, Liebling.«

Ich sah deutlich, wie viel Kraft es ihn kostete, sich zu beherrschen - seine Fingerknöchel schimmerten weiß.
Dennoch war seine Stimme leise und fast zärtlich: Es verlieh mir eine Gänsehaut.

Er spielt nur mit mir, begriff ich.

Mit wenigen Schritten war der Mann aus meinem Blickfeld verschwunden und Stille legte sich über mich.

Erstarrt saß ich da, tausend Gedanken schwirrten durch meinen Kopf.
Was sollte all dies?
Warum war ich hier?
Ich schloss für einen Moment die Augen, um die Flut der Gedanken nicht abreißen zu lassen.

In dieser Stadt galt nur ein Gesetz, eine Regel, die alle Lebenden in ihre Bahnen lenkte.
Die blauen Augen schienen an alle hier Geborenen vererbt zu werden.
Die blonden Haare ebenfalls, doch es gab Ausnahmen.
Eine war der Offizier, eine weitere war ich selbst.

Obwohl du nicht hierher gehörst.

Ich vermutete, die Statue in meiner Tasche würde mir eine Art Schutz verleihen. War es ihre Macht, die mich schützte?
Und wenn ja, für wie lange noch?
In jedem Moment könnte sich meine Augenfarbe wieder verändern.
In jeder Sekunde würde ich wieder als Gefahr - als Fremde - gesehen werden.

Statt gefangen genommen und eingesperrt würde ich dann auf der Stelle getötet werden.
Bei diesem Gedanken spürte ich Panik in mir aufsteigen, doch es gelang mir, mich wieder zu beruhigen.

In dieser Stadt schienen die Blondschopfe - die Reinen - mehr Wert zu haben als ihre Mitmenschen - die, deren Haare nicht blond waren.
Es machte plötzlich alles Sinn:
Diese besondere Haarfarbe - viel heller und strahlender als die natürliche Farbe - ordnete sie einem Gott zu.

In diesem Fall: Zeus.

Alle Menschen auf dieser Insel vererbten dieses Gen weiter, es zeigte ihre göttliche Segnung und ihren Glauben.

Doch gab es, wie ich herausgefunden hatte, auch Ausnahmen:
Es waren die Braunhaarigen, die zwar die selbe Augenfarbe trugen, doch aber minderwertiger waren und niedere Berufe ausübten.
Beide Gruppen lebten nebeneinander, zusammen in einer Stadt, und doch gab es diese Trennung.
Einer meiner ersten Gedanken war die Idee von Bastarden, also unehelich geborenen Söhnen und Töchtern, gewesen.
Diese wurden schließlich als unrein und aus Lust und Boshaftigkeit geboren angesehen.

Vielleicht war dies ihre Strafe für die Umstände ihrer Geburt, etwas, dass sie ihr Leben lang mit sich tragen würden und strafen würde.
Es waren schreckliche Vorstellungen, doch konnte ich mir nichts anderes ausmalen.
Die nächste Frage, die ich mir stellte, jetzt, da ich nichts anderes tun konnte, war folgende:

Was war dies für ein Ort?

Ich kannte nur diese Insel, nur diese Stadt, den Strand und den Wald, welcher West- und Nordseite der Stadt umgab.
Und warum war ich anders?
Ich gehörte nicht hierher, das wusste ich.

Ich gehörte nicht zu ihrem Gott, war einem anderem bestimmt.

Poseidon - er war es, dem ich mich versprochen hatte.
Er war mein Herrscher, mein Richter, mein Schutz in dieser Zeit.

Ich traute den Menschen dieses Dorfes nicht - denn unsere Schutzgottheiten waren ewig im Krieg, Himmel und Wasser trafen am Horizont aufeinander, vermischten sich jedoch nie, was ein Symbol von Zwist und Distanz war.

Zeus und Poseidon: Brüder, jedoch gespalten im Kampf um die Macht des Universums.
Es war dieser ewige Konflikt, wusste ich, der mich und die Bewohner Rhytkars trennte.

Schließlich wurde ich müde, meine Lider wurden schwer und ich beschloss, ein wenig zu schlafen.
Die schwache Glut des Feuers warf einen rötlichen Schatten auf mich, während mich die Erinnerung an die Weiten des Meeres in den Schlaf begleitete.

Ich träumte von den dunklen Tiefen des Meeres und den luftigen Höhen des Himmels.

Tochter der SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt