Kapitel 3

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Schnell atmend sah ich mich um. Wieder begegnete ich hellen, blauen Augen, sah Kinder, die sich ängstlich an den Rock ihrer Mutter klammerten. Hände bewegten sich wie in Zeitlupe im regen Gespräch, Finger zeigten auf mich.

Ich spürte ein Kribbeln auf meiner Haut, konnte nur schwer atmen.
Ich fühlte mich benommen und hörte die Stimmen der Menschen nur dumpf und wie aus großer Ferne.
In Panik rannte ich los, stieß Menschen beiseite, die mich nur wie graue Schatten umgaben.
Ich spürte Hände auf meiner Haut, jemand riss an meinem Gürtel und versuchte, mich zu Boden zu ringen. Ich schüttelte meine Verfolger ab, lief blind durch Gassen, streifte weitere Personen, hörte ihre aufgeregte Rufe in mir wiederhallen.

Mehrmals stolperte ich, trockener Sand klebte auf meiner Haut.
Meine Lunge brannte und mein Herz schlug wild. In Panik bog ich um die nächste Ecke und wurde hart zu Boden gerissen.
Ein Schatten hockte auf mir, während ich verzweifelt nach Luft schnappte.

Nein, dachte ich verzweifelt, nein!

Plötzlich wurde ich nach Oben gerissen, meine schwachen Beine trugen mich kaum. Ich sah dunkle Schatten vor meinen Augen tanzen, als eine schwere Holztür aufgerissen und ich in einen kleinen Raum gestoßen wurde.
Kraftlos stützte ich mich auf meine Arme, mein gesamten Körper war zum Zerreißen gespannt.
Ich vernahm eine dunkle, raue Stimme, die aufgeregt zu mir sprach.

»Wer bist du?«, fragte eine männliche Stimme, »Warum suchen sie dich?«

Von Draußen wehten die Rufe der Bewohner herein, die geringe Entfernung ließ mich erschaudern.

Ich atmete schnell und suchte nach Worten, um mich zu erklären.

Vor mir stand ein groß gewachsener Mann, ein paar Jahre älter als ich. Er trug verwaschene Kleidung, sein Gesicht war von der Sonne verbrannt. Seine blauen Augen ließen mich zittern.

»Ich - ich weiß nicht«, stammelte ich verzweifelt, »Ich weiß nicht ... -«

Doch der Mann lachte nur amüsiert und reichte mir seine Hand. Misstrauisch ergriff ich sie und zog mich hoch.

»Die meisten machen sich wenigstens die Mühe und lügen mich an, weißt du«, erklärte er mir, »Was ist wohl so besonders an dir, hm?«

Wieder lachte er - es war ein leichtes, fröhliches Lachen.

»Mein Name ist Lewis«, sagte er dann und sah mich erwartungsvoll an.
»Und wie heißt du?«

Diese Frage ließ mich zögern.
Eine furchtbare Ungewissheit schlich sich in mein Bewusstsein.
Ich suchte nach Worten, tat währenddessen so, als würde ich meine Haut nach Kratzern absuchen.
Unzählige Namen geisterten durch meinen Kopf, doch es waren Namen, von denen ich wusste, dass sie nicht zu mir gehörten.
Ich schloss meine Augen, atmete ein und sagte:

»Freya.«

Lewis lächelte ein wenig.

»Nun denn, Freya«, sagte er fast schon feierlich, »Ich bin gespannt darauf, deine Geheimnisse zu erfahren.«

Verwirrt legte ich den Kopf schief und sah ihn an.
»Meine Geheimnisse? Wieso?«

»Nun, ich habe dir gerade das Leben gerettet. Und du siehst nicht so aus, als könntest du dich freikaufen.
Ich will einen Dank dafür.
Und so, wie du aussiehst, kommst du nicht von hier. Ich verlasse diese Insel nicht oft -«, er machte eine kurze Pause und zog die Stirn in Falten, »Und außerdem hast du bemerkenswerte Augen.«

Instinktiv senkte ich meinen Blick. Ich war so erleichert über meine Rettung gewesen, dass ich vergessen hatte, dass ich immernoch in Gefahr war.

»Da gibt es nichts zu erzählen«, sagte ich nur und mein Blick schweifte durch den Raum, »Ich kann mich nicht erinnern.«

»Nun, das macht es ja noch spannender«, antwortete Lewis lächelnd und klatschte in die Hände.
Er hatte ein hübsches Gesicht, fiel mir auf - und vielleicht, überlegte ich, verbarg dieses Gesicht auch eine vertrauenswürdige Seele.
Er würde einen wertvollen Verbündeten abgeben, entschied ich.

»Zu schade«, sagte Lewis jedoch nun und setzte eine gespielt traurige Miene auf, »Zu schade aber auch...«
Plötzlich schwang seine Stimmung um und seine Gesichtszüge wurden hart.

Er griff nach meinem Arm und zog mich zur Tür. Ich sah ein gefährliches Blitzen in seinen Augen, als er die andere Hand auf die Klinke legte.

»Dann muss ich dich wohl deinem Schicksal überlassen«, sagte er jetzt und sah mir fest in die Augen, »Gute Nacht, kleines Vögelchen.«

Mit einem Ruck öffnete er die Tür und stieß mich hinaus.
Der raue Sand unter meinen Fingern fühlte sich warm an.
Hinter mir hörte ich, wie die Tür geschlossen und ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.

Die Sonne brannte in meinen Augen, als ich mich aufrappelte und davon lief. Mit schnellen Schritten durchquerte ich einige Straßen, duckte mich hinter Mauern und schlich zwischen Häusern hindurch.
Ich war mir der Gefahr, in der ich schwebte, bewusst, doch drängte mich, ruhig zu bleiben.
Einige Minuten irrte ich durch das Dorf, den Blick stets auf den Boden gesenkt. Wie in Zeitlupe schienen sich die Menschen zu bewegen und ihres Weges zu gehen. Mit leisen Schritten, geschützt in den Schatten, ließ ich das Zentrum des Dorfes hinter mir.

Und atmete erleichtert auf, als ich den Waldrand entdeckte.

Ich spürte die Blätter auf meiner Haut und begann zu rennen. Über mir am fernen Himmel schoben sich dunkle Wolken vor die Sonne.
Blitze schlugen in weit entfernte Bäume ein, das Grollen des Donners ließ mich erschaudern.
Ich spürte eine göttliche Kraft in der Luft, viel größer, als dass ich sie je begreifen könnte.
Ich lief immer weiter, suchte mir meinen Weg durch das Labyrinth der Bäume.

Mit schweren Schritten sah ich eine Lichtung auf mich zukommen.
Die Luft roch vertraut, die Blätter der Bäume bogen sich schwer im Wind dieses Sturmes.
Ich trat aus dem Dickicht und erblickte einen See, dessen glatte Oberfläche schwach glitzerte.

Ich ließ mich auf die Knie fallen und steckte eine Hand in das eiskalte Wasser.
Ich hob die Hand zum Mund und schmeckte Süßwasser auf meiner Zunge.
Schlagartig entspannte ich mich, als ein weiterer Blitz die Umgebung erhellte. Leichter Regen benetzte meine Haut und ich sah auf die jetzt unruhige Wasseroberfläche.
Mein Gesicht war dreckig, erschöpfte Schatten hingen unter meinen Augen.

Doch plötzlich schreckte ich hoch.

Ungläubig betastete ich mein Gesicht, meine Finger streiften die raue Haut unter meinen Augen.
Im Wasser sah ich mein eigenes Spiegelbild, doch war es mir jetzt so fremd.

Blaue, helle Augen blickten mir entgegen - Augen, die mir eine Gänsehaut verliehen.

Tochter der SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt