Kapitel 22

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Wir brachen früh auf und ließen nichts zurück.
Unsere wenigen Habseligkeiten steckten in den Taschen aus Leinen oder meinem Rucksack.
Die Straßen waren leer und kahl, die Stadt ohne die Menschen und das bunte Treiben grau und trüb. Die Sonne war aufgegangen, doch ihre Wärme vermochte es nicht, die Kälte der Nacht zu vertreiben.

Unser Atem gefror in der Luft, als Lewis und ich den Stadtrand erreicht hatten und einen letzten Blick zurück warfen. Wir standen auf einer natürlichen Anhöhe, einem grasbewachsenen Hügel, und der Ausblick raubte uns den Atem:

Die Sonne hing wie eine glühende Scheibe über dem Horizont, eine ruhige See breitete sich vor ihr aus.
Mein Atem ging ruhig und gleichmäßig, während ich die glitzernden Sonnenstrahlen auf den Wellen treiben sah.
Die Stadt unter uns war verschlafen und leise, aus den hohen Schornsteinen stieg noch kein dunkler Rauch.
Der Moment hüllte uns in Stille und schien uns nicht mehr herzugeben.

Einige Minuten standen wir beieinander und es schein, als könnten wir dieses Gefühl von Sehnsucht und Fernweh nicht loslassen.
Doch dann sagte Lewis: »Lass uns gehen«, und nahm meine Hand sanft in seine.

Ich nickte leise und versuchte diesen letzten Augenblick in mich aufzunehmen, doch er ging so schnell wie er gekommen war.

Wir wandten uns nach Westen und erblickten eine flache, grasbewachsene Landschaft.
Der Weg zur nächsten Stadt würde uns einige Tage kosten und es würde beschwerlich werden.

»Ist es das wert?«, fragte ich Lewis nachdenklich, als wir mit schnellen Schritten Richtung Whalur eilten, »Die Stadt und die Anführer der Bewegung?«

Er sah mich kurz an. »Ich denke, es ist unsere einzige Chance, Freya«, antwortete er und sah gen Himmel.
»Und wir sollten sie nutzen. Bei all dem Glück, mit dem wir gesegnet wurden, wäre es dumm, unser Schicksal weiterhin auf die Probe zu stellen.«

Wir gingen eine Weile nebeneinander her, stumm und in Gedanken versunken, bis Lewis sagte:

»Ich denke manchmal an die Menschen in Rhytkar, weißt du? Sie hätten unsere Hilfe verdient, statt für uns ihr Leben geben zu müssen.«

Ich nickte langsam. »Es ist unfair«, stimmte ich zu.

»Genau«, antwortete Lewis, »Castor ist ein grausamer Herrscher, er will lediglich seine Macht und seinen Ruhm vergrößern. Die Folgen für Andere oder seine Mittel sind dabei zweitrangig.«

Er ist wahnsinnig, dachte ich bei mir und ein kalter Wind ergriff mich.
Ein Trunkenbold und ein Narr, fügte ich hinzu.

»Glaubst du, er würde uns töten, wenn er uns in die Hände bekäme?«, fragte ich und fürchtete mich bereits vor der Antwort.

Lewis überlegte einen Moment.
»Nach seinen Maßstäben hätte ich sicherlich den Tod verdient, doch ich bin mir nicht sicher, ob Castor mir diese Gnade erweisen würde. Ich will mir gar nicht ausmalen, was er mir stattdessen antun würde. Eins ist klar:
Er wird mich bezahlen lassen, für deine Flucht, für meine Hilfe und den Ärger, den wir ihm gemacht haben.«

»Falls er dich bekommt«, betonte ich und bemerkte mit Schrecken, dass Lewis nicht den Konjunktiv benutzt hatte.
»Er wird dich nicht bekommen, verstanden? Wir können ihn stoppen, Lewis. Mit der Hilfe der Revolution können wir ihn stoppen!«

Er nickte und sagte: »Ja.«

Ein komisches Gefühl überkam mich, doch ich zwang mich, nicht daran zu denken.

Am Abend hielten wir an einem kleinen Fluss, der sich träge durch die flache Landschaft schlängelte.
Ich sah ein paar silberne Fische im Wasser und spürte ein Knurren in meinem Bauch.
»Werde ich je wieder etwas anderes essen können als Fisch?«, fragte ich schmunzelnd, während wir unser Nachtlager vorbereiteten.
»Hier, du bist dran!«, antwortete Lewis lachend und warf mir einen Pfeil mit scharfer Spitze zu. »Einen Großen bitte!«

Ich fing ihn geschickt auf, hockte mich ans Flussufer und beobachtete die kleinen Fische, die schnell unter der Wasseroberfläche hin und her zischten.
Lewis hatte mir das Bogenschießen beigebracht und ich war zwar kein Naturtalent, doch wurde mit jeder Einheit besser.

Wir benutzten die Pfeile notgedrungen als kleine Speere, um wenigstens frischen Fisch auf dem Speiseplan haben zu können.
Ich mochte den salzigen Geschmack des Tieres, doch erinnerte mich irgendetwas daran an ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit.
Ich hatte diese Gefühle schon lange nicht mehr spüren dürfen und das betrübte mich.

»Ja!«, sagte ich aufgeregt, als ich einen Fisch erwischte und er zappelnd am Boden des seichten Flusses liegenblieb.

Und nach etwa einer Stunde hatte ich tatsächlich ein annehmbares Abendessen vorbereitet:
Es gab gegrillten Fisch mit Kräutern, trockenes, aber leckeres Brot und etwas Salat, den wir zuvor in einem Feld entdeckt hatten.
Im Schatten einiger Bäume und mit der Wärme der untergehenden Sonne im Rücken aßen wir und unterhielten uns.

»Was ist wohl mit deinem Adlerweibchen?«, fragte ich und kaute auf meinem Brot, »Kommt sie ohne dich zurecht?«

»Kona hatte schon immer ihren ganz eigenen Kopf«, antwortete Lewis und sein Lächeln sah traurig aus. Er schien sie zu vermissen.
»Ich hoffe sehr, sie liegt in ihrem Nest mit einem vollen Bauch und dem Wissen, dass ich bald zu ihr zurückkehren werde.«

Bei diesem Gedanken musste auch ich lächeln und ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus.
»Da bin ich mir sicher«, sagte ich.

Whalur, die Stadt, in der wir die Anführer der Revolution gegen Castor treffen würden, war noch etwa eine Tagesmarsch entfernt und der Tag der Entscheidung rückte immer näher.
Es schien mir absurd, mir etwas zurechtzulegen, dass ich sagen könnte, denn ich verstand noch so wenig von den Ereignissen und deren Wichtigkeit oder der Art, eine Verhandlung zu führen.
Ich hoffte, dass ich weiterhin auf Lewis vertrauen konnte und dass er mir auch in den kommenden Tagen zur Seite stehen würde, so, wie er es seither getan hatte.

Tochter der SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt