Kapitel 12

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-FREYA-

Der Abstieg durch die engen, gewundenen Pfade war hart.
Wir hatten die Höhle hoch in den Bergen schon am frühen Morgen verlassen und ich war nicht schwindelfrei.
Der Wind wehte kräftig und ich strich mir meine langen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Lewis lief direkt vor mir und um nicht auf den viel zu weit entfernten Boden blicken zu müssen, fokussierte ich eine Stelle auf seiner rauen Jacke und wandte den Blick nur ab, wenn er mir an besonders gefährlichen Stellen die Hand reichte, damit ich nicht abstürtzte.
Das Bergland mit seinen ewig langen Hügeln schien sich über ein Viertel der Insel zu erstrecken und so weit oben war die Aussicht war atemberaubend:

Die zerklüfteten Felsen im Norden, die schneebedeckten Spitzen der vielen, hohen Berge, ein einsamer Adler, der weit oben seine Bahnen zog - es war das erste Mal, dass ich die gesamte Insel erblicken konnte.
Das musste Kona sein, dachte ich.
Ich beneidete das Adlerweibchen um ihre Fähigkeit, über all dem hier schweben zu können. Über all den Problemen, über all den kleinen Menschen.
Wir mussten ihr von dort oben so winzig erscheinen. Königin der Lüfte, dachte ich wehmütig.
Im Osten und Westen erstreckte sich ein massives Waldgebiet aus Kiefern und Buchen über die Insel, stellenweise unterbrochen von kleinen Dörfern oder mehreren Städten.
Die Stadt Rhytkar, das bisher einzig mir mit Namen bekannte Fleckchen Land, erhielt einen zentralen Platz in der Mitte der Insel.
Mehrere Straßen liefen sternförmig ab zu den Seiten und schlängelten sich durch das gesamte restliche Land.
Obwohl es noch sehr früh war, sah ich dunkle Rauchschwaden aus hunderten Schornsteinen in den verhangenen Himmel aufsteigen.
Im Süden sah ich undeutliche Pflanzenreste auf gelbem und braunen Grund, die Vegetation nahm ab und wurde immer karger.
Als die Spitzen der Bäume meinen Horizont erreichten, seufzte ich.
Unfähig, weiteres zu erkennen, beschleunigte ich meine Schritte und stolperte Lewis hinterher.

Glücklicherweise hatte er schon vor Sonnenaufgang seine Tasche gepackt und mir ebenfalls etwas Proviant in die Hand gedrückt.
»Und vergiss nicht«, hatte er mir gesagt, »Mein Zauber kann dich nicht ewig schützen. Bleib in meiner Nähe.«

Dank Lewis' unglaublicher Fähigkeiten war ich jetzt mit einer neuen Augenfarbe ausgestattet, das Zeichen auf der Rückseite meines Halses hatte er ebenfalls bedacht.
Doch er hatte mich auch gewarnt:

»Die Zeichen eines Gottes«, hörte ich ihn wieder in meinem Kopf, »Besonders eines so mächtigen wie Poseidon sind offen gesagt unmöglich, zu verändern. Doch solange niemand dich oder deine Herkunft hinterfragt, solltest du dir keine Sorgen machen müssen.«

Er hatte mir erklärt, dass er eine Art verblassenden Zauber angewandt hatte, der, bei geringer Konzentration auf das Zeichen, es lediglich verschwimmen ließ und unleserlich machte.
Außerdem musste ich mich wappnen:
Ich konnte nicht leichten Herzens davon ausgehen, völlig unentdeckt zu bleiben.
Fremde waren auf dieser Insel aufgrund ihrer Abgeschiedenheit sehr selten und ich würde wahrscheinlich in irgendeiner Weise Aufmerksamkeit auf mich ziehen.
Und unentzifferbare Zeichen, wie ich nun augenscheinlich eines trug, traten in dieser Kultur entweder als Buße für Straftäter oder infolge einer schweren Erkrankung oder eines Unfalls auf.
Der Einfachheit halber entschieden wir uns für letzteres, im Falle eines hartnäckigen Fragestellers.

Ich atmete erleichtert aus, als ich endlich wieder festen Boden unter meinen Füßen spürte.
Lewis führte mich zu einer kleinen Süßwasserquelle, an der wir unsere Trinkwasserbeutel auffüllten und uns wuschen.

»Fühlt sich gut an, wieder sauber zu sein, nicht?«, fragte Lewis lächelnd und wir setzten unseren Weg fort.

Die Vögel sangen ein fröhliches Lied in den Baumwipfeln hoch über unseren Köpfen und es stimmte mich zuversichtlich.
Nach einer Weile stoppte Lewis und ließ den Rucksack, den er auf seinen Schultern getragen hatte, zu Boden gleiten.
Er öffnete die rostigen Schnallen und reichte mir etwas.

Tochter der SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt