Kapitel 11

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-FREYA-

Stumm verschlang ich mein Abendessen.

Lewis saß mir gegenüber und starrte gedankenverloren in die warmen Flammen des Lagerfeuers, das er zwischen uns entfacht hatte.
Die Schuppen seines am Stock im Feuer hängenden Fisches verfärbten sich langsam schwarz, doch er schien es nicht zu bemerken.

»Hey«, sagte ich leise, um ihn nicht zu erschrecken, und schluckte den letzten Bissen hinunter, »Dein Fisch brennt an.«

»Verdammt!«, rief Lewis nur und verbannte sich die Finger bei dem Versuch, den nun ebenfalls verkohlten Stock aus dem Feuer zu holen.
Stumm bot ich ihm etwas von meinem Fisch an und er nahm die Hälfte.
»Danke«, murmelte er und sein Mund verzog sich zu einem gedämpften Lächeln.

»Worüber denkst du nach?«, fragte ich und beobachtete, wie der rote Schein des Feuers auf seiner Haut schimmerte.
Den Blick auf das Feuer gerichtet, seufzte er leise und antwortete:
»Ich weiß einfach nicht, was ich mit dir anfangen soll, Gezeichnete.«

Er lächelte sanft und biss in seinen Fisch, während er mich über das Feuer hinweg ansah.

»Hoffentlich ist dir bewusst, wie gefährlich es für dich ist, dich ohne meinen Schutz hier aufzuhalten.
Die Rivalität zwischen Zeus und Poseidon lässt die Rhytkarer sich förmlich auf dich stürzen.«

»Jedes Zeichen eines anderen Gottes«, fügte er langsam hinzu, »bedeutet für sie eine Gefahr. Sie sind geschichtlich direkt mit Zeus verbunden, wie du vielleicht weißt ...«

Er zitierte mir ebenjenen Text, den ich auf dem Marktplatz zuvor über die Geschichte dieser Insel gelesen hatte:
Zeus hatte auf die Bewohner geblickt und sie gesegnet, auf dass sie für immer sein Zeichen trügen.

Ich nickte und mein Blick wanderte vorbei an Lewis über die kalte Steinwand.
Dort, neben ihm, konnte ich nun in die sternenklare Nacht blicken:
Wie ein dunkles Zelt spannte sich der Himmel über die Landschaft, der Halbmond spendete weißes Licht, das sanft die Blätter der Bäume strich.
Am Horizont konnte ich das Meer erkennen und mir wurde warm ums Herz.
Stürmische Wellen krachten gegen die zerklüfteten Felsen am Strand, das Brausen des Wasser klang leise in meinen Ohren.
Wir waren der Küste viel näher, als ich gedacht hatte.

Ein plötzlicher Schrei ließ mich aufschrecken.

Lewis war ebenfalls aufgesprungen, spähte durch die unregelmäßige Felsöffnung und versperrte mir die Sicht.
»Sie kommt!«, rief er plötzlich freudig aus und lehnte sich ein Stück aus der Öffnung.
Die kalte Nachtluft verwehte seine Haare und er bekam eine Gänsehaut.

Mit einem Satz sprang er vom Fenster, gerade früh genug, um nicht von dem riesigen Adler erschlagen zu werden, der sich erschöpft auf den Boden fallen ließ.
Das unnatürlich große Tier streckte träge die langen Flügel aus, um die unsanfte Landung abzufangen.

»Hallo, meine Große«, sagte Lewis sanft und streichelte über das schneeweiße Federkleid des Adlerweibchens.
»Wo warst du nur so lange? Ich habe dich vermisst.«

Wie zur Antwort erklang ein leiser Schrei und sie breitete ihre gewaltigen Schwingen aus.
»Ihr Name ist Kona«, erklärte Lewis mir, während sich die Adlerdame in einer dunklen Ecke der Höhle niederließ und mich aufmerksam beobachtete.
Ihre Krallen zerkratzten den ohnehin schon ramponierten Boden und sie hinterließ eine blütenweiße Feder.

»Kona?«, fragte ich.
»Was bedeutet das?«

Der Name ließ in mir eine undeutliche Erinnerung zurück.
»Es heißt »Dame«, antwortete Lewis und sah ein letztes Mal aus der Felsöffnung zu meiner Linken, wie, um zu überprüfen, dass wir allein waren.

»Passt zu ihr, findest du nicht?«

Lächelnd sah ich ihn an.
»Ich wusste nicht, dass du so viele Sprachen sprichst«, erklärte ich beeindruckt.

»Wenn du wandlungsfähig bist, reicht nicht allein ein passendes Aussehen, um dich versteckt zu halten«, sagte Lewis mir und sah mir in die Augen.
»Du hast wirklich Glück, bei mir gelandet zu sein«, fügte er verschmitzt hinzu.
Ich beobachtete, wie er in einem der unordentlichen Blätterstapel wühlte und dabei konzentriert die Augenbrauen zusammenzog.

»Hier«, sagte er nach ein paar Sekunden und reichte mir ein dünnes Blatt Pergament, dass auf beiden Seiten mit schwarzen Runen beschriftet war.
Langsam wanderten meine Augen über die sonderlichen Zeichen, doch ich konnte nichts davon entziffern.

»Was ist das für eine Sprache?«, fragte ich, als Lewis sich neben mir niederließ.

»Das hier«, antwortete Lewis mit blitzenden Augen, »Nennt sich »Malfar«. Es ist die Sprache der Magie, wenn du so willst.
Natürlich kannst du sie nicht lesen, aber mach dir nichts daraus.«

Er legte den Zeigefinger auf die oberste Zeile und begann mit leiser Stimme vorzulesen:

»Vertreter eines Gottes, im Willen geeint, Beschützer des Friedens. Hekate, Weib der Magie, verleiht die Gabe, es ihr gleich zu tun.
Die Ihren, Wächter an den Toren dieser Welt, sollen einig sein für immer.«

»Wow«, sagte ich und begriff, was er mir da vorlas.
»Ist das deine Geschichte?«

Lewis nickte. »Die Sage, wie Menschen wie ich zu unseren Kräften gekommen sind. Spannend, nicht?
Ich wette, ich finde auch etwas zu den Töchtern des Meeres.«

Er sagte das mit einer leisen Bewunderung, stand auf und durchsuchte etliche Stapel nach den richtigen Blättern.
Ich verbachte die restliche Nacht damit, dort zu sitzen am Feuer und, wie in Trance seiner Stimme lauschend, in die Geschichten aus längst vergangenen Zeiten einzutauchen.

Das fast heruntergebrannte Feuer spendete kaum noch Licht, als die Sonne sich im Osten über den Horizont erhob und ein neuer Tag hereinbrach.

Tochter der SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt