Kapitel 18

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-FREYA-

Bei Sonnenaufgang erreichten wir einen kleinen Hafen im Süden, der offenbar sicher genug für einen Landgang war.
Lewis und ich standen im knietiefen Wasser und halfen der Mannschaft, die Waren zu verladen. Der Kapitän wollte offenbar Zucker oder Hanf verkaufen, genaueres wusste niemand über seine weiteren Pläne.
Die aufgehende Sonne warf rotes Licht auf die ruhige See und das Wasser war noch kalt von der Nacht.
Lewis und die Crew des Schiffes verluden die schweren Kisten auf hölzerne Wagen, während ich die rauen Seile, die die Ladung befestigte, aufband und festzog.
Es war eine harte Arbeit und bald wurde meine Hände rau und pochten schmerzhaft. Der Kapitän stand mit einer zufriedenen Miene hoch an Deck seines Schiffes und beobachtete die Verladung seiner Schätze.
Lewis hatte mir einmal erzählt, dass er ein sehr reicher Mann war und Häfen auf der ganzen Welt bereiste.
Ich konnte mir kaum vorstellen, wie viele Jahre dieser Mann auf See verbracht hatte oder wieviel Geld durch seine Hände geflossen war.
Die tiefen Falten an seinen Augen und Furchen in seiner Haut erinnerten mich an etwas sehr altes, längst vergessenes.
»Weitermachen!«, schalt mich einer der Hafenarbeiter und zeigte wütend mit dem Finger auf mich.
Lewis, der die meiste Zeit stumm neben mir gearbeitet hatte, ließ auf Zeichen des Kapitäns seine Kiste sinken und traf ihm am Schiff zu einem Gespräch.
Die schwere Kiste mit undeutlichen, roten Beschriftungen versank ein wenig im nassen Sand und die sanften Wellen umspülten das raue Holz, während ich mit der Arbeit fortfuhr.

Als alle Kisten verladen waren und das Geld eingesammelt, verabschiedeten wir uns.
»Mögen eure Götter euch schützen«, sagte der Kapitän, klopfte auf Lewis Schulter und salutierte zum Gruß.
»Danke«, sagte ich nur.
Schweren Herzens machte ich mich mit Lewis auf den Weg ins Innere des Hafens.
Es fiel mir schwer, das Meer erneut hinter mir zu lassen und in die stickige Luft dieser Stadt einzutauchen:
Dutzende Schornsteine stießen schwarzen Rauch in die Luft, der Boden unter unseren Füßen war matschig und an manchen Ecken sah ich Schmiede bei ihrer Arbeit oder Fischer, die ihre Waren anboten.
Ihre blauen Augen und braune Haut erinnerte mich schmerzhaft an Rhytkar und ich schloss für einen Moment die Lider.

»Hast du einen Plan?«, fragte ich Lewis, der ebenfalls stehenblieb.
Sein Gesicht war bereits etwas grau vom Ruß und dem Rauch, der in der Luft lag.
»Ja«, sagte er nur wage und wies mich an, weiterzugehen.

Als ich zu ihm aufschloss, wies er auf einige alte und offenbar unbewohnte Häuser am Rande einer großen Schmiede, die aufgrund der Hitze und des Lärms des Betriebes wohl auch nie verkauft würden.
»Es muss reichen«, sagte Lewis kurz entschlossen und steuerte auf eines der Häuser zu.
Ich hatte solche Bauten noch nie gesehen und beobachtete das kleine Haus aufmerksam:
Die große, zweiflügelige Tür, die einst sicher majestätisch und beeindruckend gewirkt hatte, knarrte, als Lewis den losen Riegel wegschob.
Das trockene Holz war an einigen Stellen bereits gesplitterte und die braune Farbe blätterte ab, doch der Zustand des Hauses würde vermutlich andere Schutzsuchende oder Tagelöhner abschrecken und uns einen Platz bieten, zu dem wir zurückkehren konnten.

Fahles, oranges Licht fiel durch die hohen Fenster im Inneren des Hauses auf den sauberen, aber bewachsenen Boden.
Grüner Efeu kroch an allen Kanten des Raumes hoch und hing von der Decke.
Die hölzerne Treppe am Ende des Raumes führte einige Meter nach Oben in einen weiteren Raum, der dem ersten sehr ähnlich war.
Eine dicke Staubschicht lag auf den leeren Räumen, doch wenigstens das Dach schien noch intakt und zuverlässig:
Schwere, stabile Balken stützten die Mitte des schrägen Dachs und zu ihren Füßen wuchsen ein paar Gräser und wilde Pflanzen.
»Die Natur sucht sich immer ihren Weg«, sagte Lewis bei diesen Anblick ehrfürchtig und ich musste an die dreckige, enge Stadt denken, die Draußen niemals zu schlafen schien.

»Es ist schön hier«, erwiderte ich und strich über die tiefe Fensterbank zu meiner Linken.
»Kann es jedenfalls werden«, stimmte Lewis nachdenklich zu und platzierte all unsere Habseligkeit in einer Ecke des Raumes, die nicht so stark bewachsen war.
Ich beobachtete mit Bewunderung eine besonders hartnäckige, mir unbekannte Pflanze, die sich den Weg durch den harten Asphalt gebahnt hatte und nun ihre giftgrünen Blätter ausstreckte.
»Wir müssen diese Pflanzen loswerden«, sagte Lewis schlicht und fügte hinzu:
»Es sind einfach zu viele. Ich schlage vor, wir verbrennen sie.«

»Muss das sein?«, fragte ich und sah ihn an. »Sie gefallen mir.«
Ohne es zu wollen, musste ich ein wenig lächeln, als ich Lewis' verdutzte Miene sah.
»Du kannst mir nicht erklären, dass sie nicht schön sind«, sagte ich und zog die Augenbrauen hoch.
»Eine schöne Symbolik, ja«, stimmte Lewis zu, lehnte sich gegen die blasse Wand am Fenster und sah nach Draußen.
Die Luft fühlte sich noch immer schmutzig an und rau, doch das Wunder der Natur in diesem Haus raubte mir sowieso den Atem:
Mit unerklärlicher Schönheit wanden sich grüne und bunte Pflanzen um Pfähle, Wände und Fenster des Raumes, ohne verwildert oder verwahrlost auszusehen.
Es sah aus, als hätte jemand vorsichtig jede dieser Pflanzen platziert, um diesen alten Ort zu beleben und neues Leben zu erschaffen.

Ein stiller Friede breitete sich in mir aus und ich spürte das Zeichen des Poseidon auf meiner Haut kribbeln.

»Es ist so still«, flüsterte ich erstaunt.

Alle Geräusche der Schmiede Draußen wurden von den dichten Wurzeln der Pflanzen und rauen Wänden verschluckt, jedoch ließen die Hitze und die hohe Feuchtigkeit neue Pflanzen sprießen.
»Es sieht aus wie ein Dschungel«, erklärte Lewis mir, »Es erinnert mich an die Sümpfe auf einer Nachbarinsel Rhytkars.«

Bei diesen Worten spürte ich einen kleinen Stich in meiner Brust: Ich wollte nicht mehr über diesen Ort nachdenken oder alles schlechte, was mir dort widerfahren war.
Oder alles gute: Ohne Lewis' Hilfe hätte ich vermutlich keinen Tag überlebt.

Fast gegen meinen Willen kamen die Worte aus meinem Mund:
»Was, glaubst du, ist mit Castor?«

»Castor?«, fragte Lewis ungläubig.
»Wieso denkst du an ihn?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich unschlüssig, »Er ist die Verkörperung all dessen, was mir widerfahren ist, weißt du.«

Ich dachte an alle schlaflosen Nächte, die Angst und Panik, die ich verspürt hatte auf dieser Insel und die Erinnerung an Schmerz und Leid schnürte mir die Luft ab.

»Du bist jetzt in Sicherheit«, antwortete Lewis mir und ging einen Schritt auf mich zu, »Ich bin bei dir und ich hoffe, du weißt: Egal, was kommt, ich werde neben dir stehen und dich beschützen.«

Ja, dachte ich nun, da ist noch mehr:

Da waren die stillen Nächte, die Freude und Wärme in Lewis' Augen, wenn er mich ansah - ich hatte jemanden gefunden, der mich aufnahm und stützte, wenn ich fiel.
Und ich hoffte, eines Tagen auch dieser Mensch für ihn sein zu können.

Tochter der SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt