Kapitel 16

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-FREYA-

»Erzähl mir von Castor«, bat ich Lewis, während wir schnellen Schrittes Richtung Küste liefen.
Sein Verhalten hatte mich erschreckt und es fiel mir nicht leicht, das zu verbergen, doch er war mein einziger Verbündeter hier und ich brauchte ihn, um auf dieser Insel zu überleben.

»Du bist ihm schon begegnet«, sagte Lewis mir nur, »Ich denke, du weißt, was für ein Mann er ist.«

Seine Antwort klang kühl und passiv. Die Blätter in den Baumwipfeln raschelten im leisen Wind, unsere Füße hinterließen keine Spuren auf dem ausgetrockneten Waldboden.

»Ich denke, da gibt es noch mehr«, sagte ich dann, »Zum Beispiel: Was ist seine Geschichte?«

»Seine Geschichte?«, Lewis lachte abschätzig.
Ich nickte nur und sah ihn an.
Nach einigen Sekunden gab er nach, atmete langsam aus und seufzte.

»Castor war einmal ein einfacher Soldat, unterstellt dem König dieser Insel. Er fiel schon früh während seiner Ausbildung auf:
Kaum zwei Wochen im Dienst, hatte er einer jungen Befleckten zur Strafe das Ohr abgeschnitten.
Blutüberströmt und weinend hatte sie ihn angefleht, sie zu verschonen, doch man sagt, er hätte nur gelacht und ihr auch das andere abgeschnitten.«

Geschockt sah ich ihn an und fühlte Angst und Abscheu in mir aufsteigen.
Doch ich bezwang mein Panik, konzentrierte mich auf seine Worte und fragte:
»Was war ihr Verbrechen? Womit rechtfertigt man eine solche Tat?«

Bedauernd zuckte Lewis mit den Schultern und half mir über einen auf dem Weg liegenden Baumstamm.
Sein blonder Haarschopf fing das Licht der tief stehenden Sonne auf.

»Ihr wurde mehrfach der Zutritt zum königlichen Hof verwehrt - als Befleckte wurde ihnen eine Audienz bei Umen, dem König, natürlich verwehrt - doch trotz der Warnungen hatte sie es eines nachts erneut versucht.
Königliche Soldaten fanden sie vor den verschlossenen Toren und wollten sie lediglich einsperren und verwarnen, doch Castor hatte andere Pläne für die arme Frau.«

Als er sprach, entdeckte ich ein trauriges Funkeln in seinen hellen Augen.

»Und dann?«, fragte ich leise und fürchtete mich vor der Antwort.

»Es heißt, er ließ sie in ein leerstehendes Lagerhaus bringen. Castor verstand es schon früh, Menschen zu manipulieren, und die anderen Soldaten folgten seinen Befehlen, obwohl dort offiziell keine Hierarchie herrschte.«

Lewis rang mit sich und atmete leise aus.
Die nächsten Worte schienen ihn Kraft zu kosten:

»Er ging sogar so weit, seine Gleichgestellten zu bedrohen und zu beeinflussen. So konnte er sie damals nach Draußen schicken, um das Haus zu bewachen und ihn zu warnen, falls etwas schiefging, während er sich mit all seiner Brutalität und seinem Wahnsinn an der Frau verging ...«

Er schloss den Mund und ich erblickte die felsige Küste im Norden, dahinter das ruhige Meer.
Es war windstill und noch warm, obwohl die Sonne schon fast untergegangen war.
Die Luft lag schwer in meinen Lungen und ich keuchte vor Anstrengung, als wir endlich den Strand erreichten.

Leichte Wellen umspülten unsere Füße, als ich fragte:

»Untersteht Castor noch immer dem König?«

Zur Antwort schüttelte Lewis den Kopf und setzte den Rucksack, den er auf den Schultern getragen hatte, in den nassen Sand.

»Nach einigen Revolten, die die Disziplin im königlichen Geschwader schwächten, gründete er sein eigenes kleines Reich und nahm ein Viertel der Soldaten mit sich.«

Fast anerkennend nickte Lewis und reichte mir einen dünnen, geschwungenen Dolch.
»Für den Notfall«, sagte er und das Gewicht der verzierten Schneide lag schwer auf meiner Hand.
Ich steckte die Waffe in meinen Gürtel und schob den Stoff meiner Jacke darüber.

«Nun kontrolliert er mehrere Städte und dutzende Dörfer, doch keiner ist stark genug, um sich ihm entgegenzustellen.
Auch Umen als Oberhaupt seines Volkes ist alt und krank und hat keine Erben.
Ich fürchte, Castor wird in ein paar Jahren völlig die Kontrolle übernommen haben.«

Als Lewis das sagte, erblickte ich am Horizont ein prächtiges Kriegsschiff, an deren Heck mehrere zerschlissene Flaggen wehten.

»Und aus diesem Grund müssen wir die Insel verlassen«, schloss Lewis dann und reichte mir auch den Bogen, den ich Castors Soldaten abgenommen hatte.
»Dieses Schiff bringt uns ans Festland und in Sicherheit«, fuhr er fuhrt und etwas in mir regte sich.

Das Festland?
Meine eigene Ratlosigkeit lag wie ein dunkler Schatten auf mir.
Ich wusste nicht, was uns erwartete, und war mir nicht sicher, ob ich blind so viel Vertrauen in einen einzige Seele setzen sollte.

Doch welche Wahl hatte ich?

Ich könnte Lewis verstoßen und auf dieser Insel bleiben, doch Castor würde mich für vogelfrei erklären oder jagen und gefangen nehmen, und sein Einfluss würde mich zu einer wandelnden Toten machen.
In allen Städten dieser Insel wäre ich eine Befleckte, würde verstoßen und ausgegrenzt.
Die Menschen würden früher oder später von meiner Abstammung erfahren und mich töten.

Ich erinnerte mich an alles, was Lewis für mich getan hatte - wie er mich vor Castors Soldaten gerettet und dann nach meiner Gefangennahme befreit und beschützt hatte.
Er hatte meine Wunden geheilt, mir Sicherheit gespendet und war mir ein Freund gewesen.
Allein auf dieser Insel hätte ich sicherlich meinen Kopf verloren.

Die einzige Chance, die ich hatte, erkannte ich, war, diesen Wahnsinn zurückzulassen und in neue Welten aufzubrechen.
Und mit Lewis an meiner seine hatte ich einen Menschen, dem ich mein Leben verdankte und der mein einziger Verbündeter auf dieser Welt war.

Wie konnte ich ihn also verlassen?

Das riesige Schiff füllte nun den Horizont aus, die Wellen schlugen hart gegen den hölzernen Rumpf.

Aus der Ferne beobachtete ich, wie mehrere Männer ein Beiboot ins Wasser setzten und sich uns näherten.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Lewis mir und lächelte ein wenig.
Er sah traurig und erschöpft aus.

Und als die Männer mehrere Meter vor uns ins knietiefe Wasser sprangen, verbreiterte sich sein Lächeln noch ein wenig, doch erreichte seine Augen noch immer nicht:

»Vaas«, sagte er und klopfte einem der dunkelhäutigen Männer auf die Schulter, »Ich bin froh, dich zu sehen.«

Der starke Mann mit groben Gesichtszügen und Kleidung aus groben Leinen verzog das Gesicht und lachte amüsiert.

»Ich hätte nicht gedacht, dich noch einmal lebendig zu Gesicht zu bekommen, Sohn der Hekate«, sagte er mit rauer Stimme und lachte ein heiseres Lachen.
Der Mann trug ein schiefes Zeichen auf der Brust, das ihn als Kapitän des Schiffes auswies, sowie mehrere langer Narben am gesamten Körper.

»Nun, wen hast du da bei dir?«, fragte der Kapitän und deutete mit dem Kopf auf mich.
Die drei Männer, die mit ihm das Schiff verlassen hatten, allesamt mit ebenso schwarzer Haut, standen still hinter ihrem Kapitän in der Brandung und beobachteten aufmerksam die Küste.

»Freya ist eine Fremde«, antwortete Lewis und sah mich lange an.
Es war, als hätte würde er mich das erste Mal richtig ansehen.
»Eine Tochter des Meeres«, fügte er geheimnisvoll hinzu und musste ein wenig lächeln.

»Nun gut«, sagte Vaas dann und nickte mir freundlich zu, »Ich denke wir haben einen günstigen Wind heute. Wir sollten ablegen, bevor er sich dreht.«

Wir folgten dem Piraten in das kleine Beiboot und das Salzwasser kribbelte auf meiner Haut.

Als ich Lewis' Hand ergriff, um in das Boot zu steigen, fühlte ich einen Funken der Hoffnung in meiner Brust.

Tochter der SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt