10. Kapitel

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Er sah aus wie mein Stefan. Die grünen Augen, eine Locke die ihm in die Stirn fiel und sogar die Narbe an seinem Handgelenk. Doch sein Blick war leer als er mich ansah. So hatte er mich noch nie angesehen. In seinem Blick lag immer so viel Ausdruck und Liebe. Doch jetzt sahen seine Augen durch mich hindurch.
Was hatten sie nur mit ihm gemacht?
Steven, der Sucher trat neben mich und sah mich an.
"Das ist er", sagte er mit kalter Stimme. Ich schüttelte den Kopf und musste die Tränen die in mir aufstiegen unterdrücken.
"Das ist nicht Stefan", sagte ich leise.
Steven nahm mich am Arm und zog mich in einen abgelegenen Raum, in dem nur eine kleine Couch stand.
"Bitte setz dich doch", sagte er und deutete auf die Couch. Langsam setzte ich mich hin und sah ihn dann an.
"Der Mann in der Zelle ist dein Stefan. Es ist sein Körper und auch sein Verstand. Doch die Ärzte unserer Welt haben ihn vergessen lassen", erklärte er mit ruhiger Stimme. Ich wollte nicht verstehen was das heißt. Das durfte nicht wahr sein.
Er sah meinen verwirrten Gesichtsausdruck und erklärte weiter:"Seit einigen Jahren gibt es eine Methode eine künstliche Amnesie auszulösen. Die Patienten werden dazu gebracht ganz bestimmte Teile ihres Lebens zu vergessen. Unter Ärzten nennt man diese Behandlung Verschlüsselung, da bei der Behandlung die gewünschten Teile des Gedächtnisses des Patienten so verschlüsselt werden, dass er keinen Zugriff mehr darauf hat"

Ich brauchte eine Weile um den Umfang seiner Worte zu erfassen. "Welche Teile seines Gedächtnisses wurden verschlüsselt?" "Alle vorhandenen Erinnerungen von der Menschenwelt"
In seiner Erinnerung hatte er mich nie kennen gelernt. Er wusste nicht mal meinen Namen.
Mein Körper begann zu brennen und ich wollte nur noch zu ihm. Es war mir egal ob er mich von sich stoßen würde, weil er mich nicht kannte. Alles was ich wollte war in seine Arme. Ich versuchte mich zu beherrschen damit die Situation nicht eskalierte. Mit Suchern war nicht zu spaßen und Steven schien noch einer der friedlichen Sucher zu sein.

Sie hatten mir alles genommen. Jegliche Möglichkeit für eine Zukunft von Stefan und mir hatten sie mit dieser Behandlung ausgeschlossen. Stevens Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
"An Stefan werden noch einige Tests durchgeführt um sicher zu gehen dass die ausgewählten Erinnerungen auch wirklich vollkommen verschlüsselt sind, bis dies bestätigt wird muss er in seiner Zelle bleiben. Ich habe den Befehl dich jetzt wieder zu dem Königspaar zu begleiten"

Er führte mich zurück in den großen Saal, wo ich schon von Stefans Eltern erwartet wurde.
"Da bist du ja wieder Liebes", begrüßte mich der König mit einem breiten Lächeln auf den Lippen.
"Bis über dein Urteil entschieden ist welches du für dein Vergehen einen gesuchten Gestaltwandler zu verbergen erhalten wirst, haben wir beschlossen dich in die Gesellschaft einzugliedern da keine Fluchtgefahr besteht. Du wirst in der Unterschicht leben. Steven wird dich zu der dir zugeteilten Wohnung bringen und dir alles erklären. Morgen früh wirst du zur Urteilsverkündung von Serina gebracht. Ich wünsche dir einen schönen Aufenthalt in unserer Gesellschaft."
Ich als Verräter ihrer Welt sollte für einen gewissen Zeitraum in ihrer Gesellschaft leben? Die Verhältnisse in der Unterschicht mussten so grausam sein, dass sie es als angemessene Bestrafung empfanden mich dorthin zu bringen.

Steven führte mich aus dem Palast heraus und wir stiegen in einen weißen Truck. Während der Fahrt erklärte er mir das notwendigste:
"Dir wurde ein Haus in der Unterschicht zugeteilt, in dem du bis zu deinem Urteil leben wirst. Dein Arbeitsplatz wird sich auf den Feldern befinden, wo du die für uns lebensnotwendige Pflanze Bohn anbauen wirst. Diese Pflanze ist für uns Gestaltwandler wie Wasser für euch Menschen, ohne sie können wir nicht überleben. Als Mitglied der Unterschicht ist es dir untersagt mit Gestaltwandlern aus der Oberschicht zu reden, es sei denn sie fordern dich dazu auf. Du darfst keinem Mitglied der Oberschicht einen Wunsch abschlagen, ihr Wort ist Gesetz, wenn sie dich um etwas bitten hast du dies zu erfüllen. Alle Mitglieder der Oberschicht tragen eine Brosche mit einem Vollmond an ihrer Kleidung, aber ich bin mir sicher du wirst sie auch so erkennen"

Dann nahm er meinen Arm und drückte eine Metallstange durch meine Haut am Handgelenk. Als etwas kurz unter meiner Haut hell aufleuchtete, zog er die Metallstange wieder aus meinem Arm.
"Das ist dein Chip. Du musst ihn überall einscannen lassen, beim Betreten deines Hauses, bei der Essensausgabe und beim Antritt zur Arbeit. Außerdem bezahlst du mit diesem Chip, das Geld was du bei deiner Arbeit verdienst wird dir auf den Chip gebucht"

Als Steven fertig damit war mir alles zu erklären sah ich aus dem Fenster.
Wir fuhren gerade durch eine sehr schöne Gegend. Überall standen prächtige Villen, die Straßen waren sauber und es gab viele Grünflächen. Doch umso länger wir fuhren, umso ärmer wurde die Gegend. Als der Wagen hielt bestanden die Häuser nur noch aus Pappe und ein wenig Holz, es gab keine Straßen und niemand befand sich draußen.
"Jedes Mitglied der Unterschicht hat einen Tagesplan, an den es sich zu halten gilt. Eigene Entscheidungen treffen ist dir untersagt. Deinen Tagesplan kannst du an allen Sensoren mit deinem Chip abfragen", erklärte Steven und öffnete die Autotür.
Bevor ich ausstieg wandte ich mich noch einmal zu ihm.
"Ist dies deine wahre Gestalt?", fragte ich neugierig. Er schüttelte lachend den Kopf. "Nein natürlich nicht. Zum Schutz meines Privatlebens, trage ich diese Gestalt nur im Dienst", das waren seine letzten Worte an mich, bevor er die Autotür schloss und davon fuhr.

Nun war ich komplett auf mich allein gestellt. Ich sah zu dem Haus dem ich zugeteilt wurde. Es war eher eine Hütte die ziemlich instabil aussah. Der Boden hier bestand aus Sand und alle Hütten sahen gleich aus. Sie standen so dicht beieinander dass man kaum zwischen ihnen hindurch gehen konnte.

Ich ging zu der Hütte und schob die Glasplatte des Sensors, welcher davor stand, nach oben. Dann legte ich mein Handgelenk auf den Sensor und wartete ab, bis er meinen Chip gescannt hatte. Dann öffnete sich die Tür der Hütte und ich trat ein.

Ich stand im Wohnzimmer und vier Köpfe wandten sich sofort in meine Richtung. "Hallo ich bin Alissa", sagte ich und versuchte etwas zu lächeln. Eine junge Frau kam lächelnd zu mir und legte ihr gezeichnetes Handgelenk auf meins.
Sie hatte schulterlanges blondes Haar und blaue Augen.
"Hey. Ich bin Talia", stellte sie sich freundlich vor. Als ich etwas verwundert auf unsere Handgelenke sah, als sie diese wieder voneinander löste,musste sie lachen. "Oh entschuldige. Ich hab für einen Moment vergessen dass du keine von uns bist. Wir begrüßen uns hier so", erklärte sie freundlich.

Meine anderen Mitbewohner waren zwei junge Männer und ein kleines Mädchen.
Sie saßen zusammen an einem Tisch. Doch als ich zu ihnen sah, stand das kleine Mädchen auf und kam zu mir. Sie hatte ihre blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten und trug ein ausgeblichenes Kleid.

Sie blieb vor mir stehen und weil sie mir nicht einmal bis zur Hüfte reichte kniete ich mich zu ihr nieder.
Sie hielt mir etwas entgegen. Auf den ersten Blick erkannte ich nicht was es war, doch dann sah ich genauer hin und erkannte eine Art Puppe.
Sie war aus Stroh, Knöpfen und Stoffresten zusammen gesetzt und sah schon ziemlich mitgenommen aus. "Wenn du möchtest kannst du heute Nacht Lotti mit bei dir schlafen lassen, dann fühlst du dich nicht so allein", sagte sie mit heller klarer Stimme und lächelte mich an. "Vielen Dank das ist wirklich lieb von dir", sagte ich lächelnd und nahm ihr die Puppe vorsichtig aus der Hand.
Talia strich dem Mädchen sanft übers Haar. "Das ist Sarah meine Tochter", sagte sie liebevoll.

Nun standen auch die anderen beiden Männer auf und kamen zu uns herüber. Einer der beiden hatte schwarzes Haar und braune Augen. Er trat hinter Talia, legte einen Arm um sie, legte seknen Kopf auf ihre Schulter und strich mit seiner freien Hand Sarah über den Rücken. "Das ist mein Mann Noel und sein Bruder Jorden", erklärte Talia weiter. Die beiden Männer begrüßten mich kurz und gingen dann nach draußen.
Talia zeigte mir mein Zimmer und kümmerte sich dann um Sarah.
Mein Zimmer war sehr klein und hatte kein Fenster. In der Mitte lag etwas Stroh und an der Wand war ein Brett angebracht, mehr gab es im Zimmer nicht.
Mir wurde langsam das Ausmaß der Armut klar.
Da hörte ich einen schrillen Schrei aus dem Wohnzimmer.

GezeichnetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt