Kirschblüten

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Da war sie wieder.

Die Realität.

Ich schlug die Augen auf und blickte in die Kirschblüten über mir.

Es war Frühling.

Verschlafen setzte ich mich auf und lehnte mich an den Stamm des alten Baumes. Ich hatte wieder von ihm geträumt.

Von Jayden.

Von unserem letzten gemeinsamen Moment.

Gedankenverloren malte ich mit meinem Finger die Umrisse des Vogel Tattoos an meinem Handgelenk nach. Jayden und ich hatten den gleichen Vogel gehabt, einen Falken im Flug.

„Weil ein Falke mit seinen guten Augen alles beobachten kann." murmelte ich. Deswegen hatten wir uns das Motiv ausgesucht.

Jayden hatte immer alles beobachtet. Jedes noch so kleine Detail. Seit er damals bei uns auf der Straße gestanden hatte. Vor neun Jahren.

Einfach so hatte er da gestanden. Als täte er es schon immer. Da war ich in etwa acht. Jayden war vielleicht zehn oder elf Jahre alt gewesen. Er war klein, mager und verschmutzt, das genaue Gegenteil von heute. Nur seine grünen Augen waren gleich geblieben.

Wir wuchsen zusammen auf, haben auf den dreckigen Straßen fangen gespielt. Nie haben wir darüber nachgedacht, woher er kam und er hat es auch nicht erwähnt.

Später sagte er, dass er es nicht mehr wisse, aber das glaube ich nicht, ich konnte es sehen, in seinen grünen Augen.

Aber er schaute sich ständig so um, als hätte er Angst, verfolgt zu werden. Vielleicht beobachtete er deswegen immer alles.

„Jedes noch so kleine Detail ist wichtig." An diesen Satz erinnere ich mich noch sehr gut.

Eine Kirschblüte fiel auf mich herab und ich fing sie auf. Ihre feinen weißen Blätter waren wunderschön. Behutsam steckte ich sie in meine Jackentasche.

Ich schaute in Himmel und seufzte. Es begann bald zu dämmern und ich musste dringend nach Hause.

Schnell verließ ich unsere geheime Lichtung und rannte den schmalen Trampelpfad entlang, der sich seinen Weg durch den Wald bahnte. Ich lief ihn immer entlang, Jayden hatte immer gesagt, ich solle tun. Vielleicht war es abergläubisch, aber ich tat es.

Bald erreichte ich die große Straße. Der Regen der letzten Tage war noch nicht wieder aus den großen Schlaglöchern verschwunden und da eh kein Auto weit und breit zu sehen war, machte ich mir den Spaß, quer über die großen Löcher zu springen.

Seit die Autos hier auf dem Land vor neun Jahren verboten worden waren, kümmerte sich keiner mehr um die Straßen.

Zuhause trat ich über die Veranda in unser Haus und wurde direkt von meiner kleinen Schwester stürmisch begrüßt. Sie fiel mir um den Hals und lachte ihr freudiges Kinderlachen.

Mein Vater erschien in der Türe. Er sah wie immer müde und kaputtgearbeitet aus. „Wo warst du?" fragte er und ich sah, wie matt seine Augen waren. Ich antwortete nicht und zog meine Schuhe aus. „Hast du dich wieder rumgetrieben?" seine Stimme klang gereizt, aber ich wusste, dass er nur seine Sorge verbergen wollte. „Ich war draußen" wich ich ihm aus, doch er hakte nach. „Du warst doch wieder im Wald, habe ich Recht?"

„Das ist nicht verboten!" konterte ich.

Mein Vater seufzte „Jetzt wo dieser Kriminelle nicht mehr da ist, ist es dort ja auch nicht mehr so gefährlich."

„Wen meinst du mit Kriminellen?" meine Stimme war gefährlich ruhig.

Mein Vater schaute mich einen Moment an, bevor er sagte „Es gibt Essen" und sich umdrehte.

„Jayden ist nicht kriminell!" rief ich ihm wütend hinterher.

„Ach nein?" fragte er laut aus dem Wohnzimmer zurück.

Ich hängte meine Jacke an den Harken und folgte meinem Vater ins Wohnzimmer.

Er saß an dem alten Tisch mit den zusammengewürfelten Stühlen und aß eine dünne Suppe. Ich setzte mich schweigend und nahm mir auch etwas.

Meine Schwester kam angelaufen und setzte sich zu uns. „Guck mal, was ich im Flur gefunden habe" sagte sie und öffnete ihre Hand.

Eine kleine, kaputte Kirschblüte lag in ihrer Handmitte. Sie musste aus meiner Jackentasche gefallen sei.

Alle Farbe wich aus meinem Gesicht und ich hörte, wie mein Vater seinen Löffel fallen ließ.

Wütend schaute er mich an „Du warst da?"

Ich schluckte und schwieg.

„Ist es keine schöne Blüte? Sie ist ganz weiß" stellte Mia verwundert fest. „Ich habe noch nie so eine gesehen."

„Magst du sie in unser Zimmer bringen?" fragte ich und sie nickte eifrig. Schnell stand sie auf und wir hörten sie die Treppe hinaufrennen.

Mein Vater schaute mich starr an und fragte mit wütender Stimme „Sag mir, dass du nicht bei diesem Baum warst!"

Zornig erwiderte ich „Ich mag ihn. Es war Jaydens und mein Platz!" Sofort bereute ich die Worte, doch zu spät.

Mein Vater schrie zurück „Wegen Jayden ist deine Mutter Tod. Dieser Verbrecher hat sie umgebracht!"

„Das ist nicht wahr!"

„Wegen ihm ist sie in diesen Wald gegangen. Wegen ihm ist sie unter unserem Baum gestorben!"

Es war auch Mums und Dads Baum gewesen.

„Das stimmt nicht. Jayden hat mit all dem nichts zu tun!"

„Du erwähnst nie mehr seinen Namen!"

Ich schluchzte auf. „Doch das werde ich. Du warst doch nicht dabei!"

„Na und. Selbst die Regierung sucht ihn! Wegen ihm sind Menschen gestorben. Er hat dir den Kopf verdreht mit seinen verträumten Ansichten!"

„Aber er hat wenigstens etwas getan!" schrie ich zurück.

Mein Vater lachte trocken. „Ja, das hat er."

Ich schwieg. Das brachte eh nichts. Zu groß war sein Schmerz.

„Und jetzt gehst du auf dein Zimmer. Ich will dich nicht mehr sehen"

Wütend verließ ich den Raum und ging hoch in mein Zimmer.

Jayden war nicht böse. Man hatte ihn nur böse gemacht. Überall in den Zeitungen hatte es gestanden und im Fernsehen war es gelaufen

Dabei hatte er nur Freiheit gewollt.

Es waren alles Lügen gewesen. Alles.

Aber keiner hatte mir glauben wollen, warum auch. Ich war ein dummes Mädchen, das Glück gehabt hatte, nicht auch getötet worden zu sein.

Aber ich war dabei gewesen und ich kannte die Wahrheit. Ich hatte alles gesehen – damals in dieser Nacht. Aber ich war zu feige gewesen, um aus meinem Versteck zu kommen. Wegen mir war meine Mutter gestorben.

Ich hatte alles gesehen – alles.

Aber ich hatte Glück, Glück, dass Sie all das nicht wussten.


VogelFreiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt