Ein kleiner Abstecher in das verlassenste Dorf der Welt

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Nachdem ich, nach diesem schrecklichen Tag im Buchladen, zurück zum Waisenhaus ging, schwirrten mir viele Gedanken durch den Kopf.

Tom hatte, anders als sonst, nicht auf mich gewartet.

Hatte das etwa mit dem Buch zu tun?

Diese Frage bräuchte ich mir eigentlich gar nicht stellen. Natürlich hatte das etwas damit zu tun. Wahrscheinlich saß er gerade jetzt auf seinem Bett und dachte angestrengt darüber nach, welches Objekt er als erstes für seine dummen Machenschaften verwenden sollte. Wenn er nicht schon einen dieser Horcruxe hergestellt hatte.

Nach diesem Gedanken schüttelte ich heftig den Kopf. Diese Geste musste für die anderen Menschen auf der Straße wohl ziemlich dämlich ausgesehen haben, schließlich ging ich hier alleine vor mich hin und stand am Rande eines Nervenzusammenbruches.

Nein. Auch wenn Tom unbedingt ewig leben wollte, musste man doch auch Dinge wie Horcruxe planen. Man konnte sie doch nicht einfach so herstellen, oder?

Zugegeben, ich wusste so gut wie gar nichts über Magie wie diese, doch für mich klang es so, als würde man sich gut auf das Machen solcher Objekte vorbereiten müssen.

So tief in meinen Gedanken versunken, bemerkte ich gar nicht, dass ich schon am Tor zum Waisenhaus angekommen war.

Auch wenn ich hier schon oft war und mich sogar schon blind in diesem schrecklichen Gebäude auskannte, machte mir das Haus immer noch große Angst und löste in mir ein Gefühl der Dankbarkeit aus, dass ich nicht, anders als Tom und viele andere Kinder, hier aufwachsen musste.

Obwohl ich kein sonderbar inniges Verhältnis zu meiner Familie hatte und sie in der Zukunft zurückgelassen hatte ohne mich auch nur annähernd zu verabschieden, war ich glücklich sagen zu können, dass ich eine gute Kindheit ohne Sorgen hatte.

Wenn ich so darüber nachdachte, fiel mir auf, dass ich so gut wie gar nichts über Tom wusste.

Ja, na gut, er hatte mir erzählt, dass seine Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben war und er deshalb hier aufwachsen musste. Außerdem wusste ich, dass er der Erbe Slytherins war. Das war dann aber auch schon alles. Von seinem Vater hatte er mir noch nie erzählt.

Lag es vielleicht daran, dass er auch tot war und deswegen, so wie es Tom ausdrücken würde, keiner Erwähnung notwendig war?

Naja, er musste ja tot sein, sonst würde Tom hier nicht leben.

Ein weiteres Mal schüttelte ich meinen Kopf, um die Gedanken loszuwerden, die mich dazu brachten, fast in Tränen auszubrechen. Auch wenn Tom mich gerade hintergangen hatte, er tat mir immer noch unendlich leid. Schließlich war ich ja in ihn verliebt.

Mittlerweile hatte ich das Waisenhaus betreten und ging die große Treppe nach oben. Nur vereinzelt saßen Kinder herum. Wie immer war alles mucksmäuschenstill und das obwohl hier so viele Menschen lebten.

Vor der Tür von Tom's Zimmer blieb ich kurz stehen.

Sollte ich da jetzt wirklich reingehen?

Eine Hälfte meines Körpers wollte sofort wieder umdrehen und, so schnell es bloß ging, das Weite suchen. Doch das wäre wohl eine mehr als schlechte Idee gewesen. Ich war ja schon einmal verschwunden, in die Zukunft, und Tom wurde daraufhin Voldemort.

Zugegeben, auch jetzt hatte er gute Chancen eben dieser zu werden und das obwohl ich hier war.

Doch trotz dieser Zweifel an mir selbst öffnete ich langsam die Tür und fand Tom genauso vor, wie ich es erwartet hatte. Er lag auf seinem Bett und las wie gebannt das Buch, das ich am liebsten auf der Stelle zerstört hätte.

Vor dem Abgrund (Tom Riddle/OC)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt