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Norah wusste nicht, ob sie erleichtert oder verstört sein sollte. Die Tatsache, dass Eves Erinnerung nur bis zu dem Moment zurückreichte, als die Beiden den Laden verlassen hatten, war zwar irgendwie beruhigend, da Norah somit lediglich eine Erklärung für die zerschundene Tasche finden musste, andererseits war sie sich nun endgültig sicher, dass das, was soeben passiert war, kein Traum gewesen ist und irgendwas mit ihr so absolut nicht stimmte.

Nachdem sie Eve erzählt hatte, wie ein Jogger sie angerempelt und dabei ihre Tüte samt Kleid auf die Straße befördert hatte und sich zudem ausführlich und lautstark darüber gewundert hatte, dass Eve sich nicht daran erinnern konnte (Alzheimer bekam man ja schließlich nicht im zarten Alter von siebzehn Jahren, oder?), war Norah nach Hause geeilt, wo ihre Mutter mit dem Abendessen auf sie wartete.

Zu Norahs Erleichterung war ihre Mutter zu gestresst, um die Verwirrung ihrer Tochter zu bemerken und verschwand nach dem Abendbrot recht schnell wieder in ihrem Arbeitszimmer, um irgendein Projekt fertigzustellen.

Als der letzte Bissen runtergeschluckt war, zog sich auch Norah schnellstmöglich in ihr Zimmer zurück. Es war an der Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Als sie ihren Laptop hochfuhr, summte ihr Handy in ihrer Hosentasche. Norah öffnete die Nachricht und musste lächeln. Eves Kleid hatte den "Jogger-Unfall" überlebt und sie war daher zur Tagesordnung übergegangen, was in diesem Fall bedeutete, dass sie die Planung für den anstehenden Schulball übernommen hatte.

Und das hieß für Norah, ein Date für den besagten Tag zu finden und in zwei Tagen pünktlich um sechs bei Eve anzutanzen und sich von ihr stylen zu lassen, da sie sowas anscheinend selbst nicht so gut beherrschte.

Norah legte das Handy neben sich auf den Schreibtisch, zog den Laptop zu sich heran und hielt nachdenklich inne. Was sollte sie bei Google eingeben?

Langsam tippte sie "Zeit bleibt stehen" ein. Sie kam sich merkwürdig vor, als sie die Enter-Taste drückte. Was auch immer sie erwartet hatte, sie wurde enttäuscht. Abgesehen von zig Seiten zu Fantasyfilmen und -romanen stieß sie auf nichts ernsthaft Relevantes oder Nützliches und auch die online Kataloge der örtlichen Bibliotheken gaben nichts her. Warum sollte sie auch etwas zu diesem Thema finden? Sowas war nun einmal absolut unmöglich!

Sie probierte noch einige andere Google-Eingaben, fand aber nichts und ging schließlich früh ins Bett. Sie konnte nicht schlafen, da tausende Gedanken ihr im Kopf herum spukten und als ihr schließlich doch die Augen zufielen, fand sie sich wieder neben Eve auf der Straße, nur dass ihre Freundin dieses Mal in einer Lache aus Blut lag und der Taxifahrer weinerlich fluchend über ihr kniete und in sein Telefon brüllte, dass die verfluchte Notfallambulanz endlich einen Wagen rausschicken sollte.

Norah wachte schweißgebadet auf. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass es bereits halb sechs war. Da sie ohnehin in spätestens einer halben Stunde aufstehen musste, legte sie sich nicht wieder schlafen, sondern schlich auf Zehenspitzen ins Bad, um sich schulfertig zu machen. Als sie in den Spiegel schaute, wunderte sie sich kaum, als ihr ein gespenstisch blasses Selbst mit verwuschelten blonden Haaren, verschlafenem Blick und glänzender, schwitziger Haut entgegenblickte. Das einzig Wache an ihr waren ihre eisblauen Augen, die immer zu leuchten schienen. "Dafür beneiden dich so viele Mädels hier“ hatte Eve einmal gesagt. "So hellblaue Augen, fast schon gruselig!"

Gewaschen und angezogen schlenderte Norah in die Küche und fing an, Frühstück für sich und ihre Mutter zu machen. Doch noch bevor ihre Mutter überhaupt aufgestanden war, hatte sich Norah bereits ihr Pausenbrot geschnappt und war raus aus der Haustür gestolpert. Sie verstand nicht, was gestern passiert war und fühlte sich seitdem so anders und merkwürdig, dass sie Angst hatte, ihre Mutter würde doch noch etwas bemerken und das wollte sie auf keinen Fall.

Die Wächter - BEGABT (Bd 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt