# 19.3

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Ein lauter Knall ließ Norah auf ihrer Bank zusammenzucken. Kurze Zeit später durchbrachen orangerote Flammen die Dunkelheit in der Ferne und Schreie und panische Rufe erfüllten die Luft. Innerhalb weniger Sekunden war Norah aufgesprungen, hatte ihre Absatzschuhe ausgezogen und rannte barfuß durch den Schnee zurück zur Schule. Sie ließ die Lichtung hinter sich und stürzte in den Wald hinein. Ihr Herz raste und ihr Hirn versuchte zu verarbeiten, was gerade passiert war. Norah spürte Seitenstiche, rannte jedoch unbeirrt weiter. Kahle Äste verfingen sich in ihrem Kleid und mehrere Male geriet sie ins Stolpern, weil Wurzeln und Steine den Waldweg uneben machten. Keuchend kam sie am Waldrand an und blieb entsetzt stehen. Das Eingangstor zur Schule stand sperrangelweit offen, die Wächter hatten ihre Posten verlassen und lieferten sich überall auf dem Platz vor der Schule, um die Statue mit den sieben Gestalten herum, Kämpfe mit in blutrote Gewänder gekleideten Leuten. Norah ging hinter einer Tanne in Deckung und beobachtete, was dort vor sich ging. Sie erkannte einen der Wächter, der sich in einem Einzelduell mit einer Frau in rot befand. Flammen zischten zwischen ihnen hin und her, denen sie entweder auswichen oder mit Wasserfontänen entgegentraten. Die Zwei waren eindeutig Beschwörer der Elemente. In einiger Entfernung kämpfte ein weiteres Pärchen, wobei sie offen aufeinander losgingen, sich gegenseitig durch die Luft wirbelten und schwere Schläge austeilten. Der Wächter, der Norah vorhin durchgelassen hatte, trug nun rot und seine Gegnerin war die Wächterin, von der sich Norah nur allzu häufig beobachtet gefühlt hatte. Beide bluteten bereits aus mehreren Wunden, doch der Kampf schien längst nicht vorüber zu sein. Norahs Blick glitt weiter über den Platz und sie konnte in erster Linie Gestaltwandler, Elementbeschwörer und Kraftbegabte ausmachen. Die Gestaltwandler nahmen tierische Gestalten an und gingen als Wölfe und andere Raubtiere aufeinander los. Ein Jaulen verriet Norah, dass einer der Wölfe ziemlich stark eingesteckt haben musste. In ihrer tierischen Gestalt konnte Norah nicht klar sagen, welcher Seite der verletzte Wolf angehörte. Je länger sie von ihrem Versteck aus zusah, desto größer wurde ihr Drang, selbst etwas zu unternehmen.

Sie schlich sich unter Deckung näher an das Geschehen heran und suchte nach einer Möglichkeit, an dem Kampfgetümmel vorbei in die Schule zu gelangen, um zu sehen, wie es dort aussah. Sie entdeckte einen Seiteneingang, der ihres Wissens in die Küche hinter dem Speisesaal führte und wollte gerade aus ihrer Deckung heraus losrennen, als Miss Abignail in der Tür der Schule auftauchte und Flammenbälle auf die Angreifer niederprasseln ließ. Norah hatte sich schon einige Male gefragt, welche Gabe die Schulleiterin wohl haben mochte und war umso beeindruckter, sie nun in Aktion zu sehen.

Sie machte erneut anstalten, aus der Deckung hervor in Richtung Nebeneingang zu rennen, als sie am Arm gepackt und zurück in den Wald gezogen wurde. Norah stieß einen erschrockenen Schrei aus, doch eine warme Hand legte sich auf ihren Mund und brachte sie zum Schweigen.

"Schhh", flüsterte eine Stimme hinter ihr und als Norah aufhörte, sich zu wehren, lockerte sich der Griff auf ihrem Mund. Sie wirbelte herum und fand sich Angelina gegenüber, die sie in der Dunkelheit mit ernstem Blick musterte.

"Einfach drauflos zu rennen, bringt nichts", sagte sie ruhig und nickte in Richtung des Nebeneingangs. "Wir brauchen einen Plan."

"Wie bist du", keuchte Norah noch immer außer Atem und starrte Angelina fassungslos an, "wie bist du an denen vorbei...?"

"Ahnst du es denn noch immer nicht?", unterbrach sie Angelina mit warmer, sanfter Stimme.

"Deine Gabe", stotterte Norah, bekam allerdings keinen geordneten Gedanken zusammen.

"Wohl vielmehr, meine Gaben", Angelina nickte langsam. "Ich bin wie du und Carter, Norah. Ich habe mehrere Gaben. Und eine davon ist nichtmal eine der sieben Begabungen."

Norah war sprachlos. Sie starrte Angelina beeindruckt an und hörte ihr gut zu, als sie nun eine Strategie zu erklären begann. Sie hatte sich wirklich zurückhalten und taktisch vorgehen wollen, doch ihr wurde ein Strich durch die Rechnung gemacht. Es war ein ungeheurer Schmerz, der sie plötzlich und ohne Vorwarnung durchfuhr. Er durchbohrte ihr Herz wie tausend Messerstiche und ließ sie atemlos nach Luft ringen. Ohne auf Angelinas warnende Rufe zu hören und ohne weiter darüber nachzudenken, rannte Norah los. Sie hatte es so deutlich gefühlt, sie hatte ihn so deutlich gefühlt. Er war in Gefahr. Ihre Verbindung ließ da keine Zweifel dran.

Die Wächter - BEGABT (Bd 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt