Carter spürte Norahs warmen Körper dicht an seinen gepresst, während die Beiden dort in der dämmrigen Ecke des Flures standen und lauschten. Ihr Atem ging etwas schneller als sonst und er konnte ihren rasenden Puls fühlen. Seine Hand lag noch immer auf ihrem Mund, doch als sie keine weiteren Anstalten machte, etwas zu sagen, ließ er sie sinken. Er wusste, dass sie von einem ungeheuren Schmerz durchzuckt worden sein musste, als er sie eben gepackt und mit sich in die Nische gezogen hatte. Ihr verzerrter Gesichtsausdruck und die Art, wie sie kurzzeitig kraftlos in seine Arme gesackt war, ließen daran keinen Zweifel. Auch Carter spürte bei jeder ihrer Berührungen noch immer leichte Stiche in Kopf und Brust, aber seitdem er begonnen hatte, die Energie zwischen ihnen zu verstehen und zu kontrollieren, waren die Schmerzen viel schwächer und erträglicher geworden. Er wusste, dass er Norah dringend das Buch zeigen musste, in dem dieses seltene Energieband erläutert wurde, und dass er ihr zeigen musste, wie sie es unterdrückte und steuerte. Sie konnte nicht länger jedes Mal vor Schmerz zusammenzucken, wenn sie sich zu nahe kamen.
Norah drehte sich in seiner Umarmung, die er noch immer nicht gelöst hatte, langsam um und blickte ihn mit in der Dunkelheit ungewohnt matten Augen an. So standen sie sich still und reglos gegenüber, während die Worte aus dem Raum, dessen Tür einen schmalen Spalt breit geöffnet war, zu ihnen drangen.
"Was ist noch verschwunden?", das war eindeutig die Stimme von Miss Abignail.
"Lehrbücher zu jeder der sieben Gaben und", das war Mister Sparks und seine Stimme zitterte, als er weitersprach, "das Buch der sieben Abtrünnigen."
Carter zog die Luft ein und spürte fast zeitgleich Norahs fragenden Blick auf sich ruhen. Er versuchte ihr mit einem leichten Schütteln des Kopfes zu sagen, dass er ihr das später erklären würde und sie schien es zu verstehen, da sie ihre Augen wieder auf die Tür des Raumes richtete, aus dem die Stimmen kamen.
"Das ist nicht gut.", sagte Miss Abignail mehr zu sich selbst als zu irgendjemandem sonst und man hörte leise Schritte, die im Raum hin- und her wanderten.
"Miss Abignail, was geht hier vor sich?", Carter fand es seltsam, dass der Bibliothekar, der sonst immer über alles so gut Bescheid zu wissen schien und mit dem er schon seit geraumer Zeit über Ereignisse dieser Art sprach, so ahnungslos war.
"Mister Sparks. Sie müssen wissen, dass unser Gespräch hier streng vertraulich ist.", die Schulleiterin klang angespannt und unheimlich ernst.
"Aber natürlich, Miss."
"Ich vertraue Ihnen. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass ich ein solches Vertrauen lange nicht jedem hier entgegenbringe."
Schweigen.
"Gewiss, Constance" Constance? Mister Sparks nannte die Schulleiterin beim Vornamen? Carter hatte nicht gewusst, dass die Beiden so vertraut miteinander waren.
"Gordon, es sind nicht nur Bücher verschwunden.", sagte Miss Abignail schließlich und in ihrem Ton schwang Verbitterung und, zu Carters starker Verwunderung, Unsicherheit mit.
"Constance?" Es folgten einige Sekunden unheimlich tiefen Schweigens und die Stille legte sich eisig und scharf um Carter und Norah. Dann sagte Miss Abignail etwas, womit selbst Carter nicht gerechnet hatte:
"Sie gehen jetzt offen gegen uns vor. Wir wissen, dass es sie schon immer gab. Bislang gab es einige wenige von ihnen, die hier und da mal kleinere Versuche unternommen hatten, die wir aber gut zu unterdrücken und zu kontrollieren vermochten. Aber es sind mehr geworden. Sehr viel mehr. Und sie greifen offen an. Gordon, sie haben eine Akademie in ihren Händen! Und die besten Lehrwerke! Und", sie stockte kurz, schnappte nach Luft und Carter konnte ihren gehetzten Ausdruck förmlich vor sich sehen, "sie ziehen Schüler von überall aus der Welt an, wie eine Lampe Insekten anzieht. Es sind Schüler verschwunden, Gordon, und Lehrkräfte!"
"Wer?", die Stimme des Bibliothekars war zittrig und schwach, doch Miss Abignail antwortete nicht mehr. Ein Geräusch im hinteren Teil des Flures hatte sie zum Schweigen gebracht und Carter wusste, dass es an der Zeit war, zu gehen. Er bedeutete Norah, ihm zu folgen und die Holztür fiel gerade in dem Moment hinter den Beiden ins Schloss, als Mister Gibson aus seinem privaten Zimmer heraus auf den Gang trat und sich gähnend streckte.
ab morgen wieder größere Updates ;) Ihr könnt auch auf meiner öffentlichen Künstler-Facebook-Seite vorbeischauen: Dort auch Infos und Updates zu den Geschichten, Bilder und evtl bald Buch-Trailer ;)
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Die Wächter - BEGABT (Bd 1)
Teen Fiction"Als sie die Augen öffnete, stand die Welt still..." Du wirst nicht als Wächter geboren. Du wirst als Begabte geboren und dann musst du dich entscheiden: stellst du deine Gabe in den Dienst der Wächter, die sich für das Gute auf der Welt einsetzen o...