Norah kam etwas zu früh an der Bibliothek an und wusste nicht so recht, ob sie draußen vor der Tür warten oder anklopfen sollte. Sie entschied sich für das Warten und ließ sich neben der Tür auf dem Boden nieder. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken nicht länger um das, was Carter ihr gestern erzählt hatte, sondern einzig und allein um Cam. Seine Tattoos, seine Lippen auf ihren, seine warme Haut, als er sie die ganze Nacht über in den Armen gehalten hatte...Sie seufzte. Zuhause war sie nicht so gewesen. Sie hätte niemals einem Jungen, den sie kaum kannte, so früh erlaubt, bei ihr zu übernachten. Sie hätte sich niemals so schnell in jemanden verliebt. Sie atmete tief ein. Hier war nichts wie Zuhause. Sie war in einer völlig neuen Welt voller Magie und Geheimnisse. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war noch immer erst fünf vor sechs. Norah seufzte auf. Sie hätte noch ein bisschen liegen bleiben können. Neben Cam. Der Gedanke war noch so neu und ungewohnt. Sie musste unwillkürlich lächeln, da vernahm sie leise Stimmen aus der Bibliothek.
"Und du glaubst wirklich, dass sie es auf sie abgesehen haben?", fragte eine Stimme, die Norah nicht auf Anhieb zuordnen konnte. Langes Schweigen folgte und Norah lehnte sich etwas näher zur Tür, um besser hören zu können.
"Ja", kam schließlich die Antwort. Carter. Er klang ernst und nachdenklich. "Sie ist mächtig. Ich habe sie beobachtet. Wenn ich mich nicht irre", er hielt inne und Norah konnte Schritte hören. Es klang, als würde Carter nachdenklich im Raum auf und ab gehen. "Wenn ich mich nicht irre", nahm er den Faden wieder auf, "besitzt sie zumindest zwei Gaben, die sie nur noch nicht perfekt kontrollieren kann. Sie kann die Zeit anhalten und Gedanken lesen beziehungsweise", erneut eine Pause, "Gedanken schicken. Aber ich glaube, ehrlich gesagt, dass sie noch mehr kann." Wer auch immer mit Carter hinter der Tür war gab ein erstauntes Geräusch von sich.
"Wenn ich sie ansehe", setzte Carter erneut an, "oder sie berühre, tut das unglaublich weh."
"Das könnte ein Aufeinandertreffen sehr starker Energien sein, was diese Schmerzen auslöst", hörte Norah Carters Gesprächspartner sagen.
"Daran habe ich auch schon gedacht", stimmte Carter zu und Norah zog die Luft ein. Hinter der Tür wurde es still.
"Es ist sechs Uhr", sagte die unbekannte Stimme schließlich und Norah konnte hören, wie sich die beiden der Tür näherten. "Sie müsste jeden Moment hier sein." Die Tür wurde geöffnet und Norah war gerade noch rechtzeitig aufgesprungen und hatte etwas Abstand zwischen sich und die Tür gebracht, als Carter und der Bibliothekar in der Tür auftauchten. Norah sah zwischen ihnen hin und her und hoffte, dass man ihr nicht anmerkte, dass sie gelauscht hatte. Als Carter ihr ein knappes Lächeln schenkte, schoss der inzwischen gewohnte Schmerz in ihren Kopf und sie griff reflexartig an ihre Schläfen. Sie sah, wie Carter und der Bibliothekar einen Blick austauschten und erinnerte sich daran, was der Bibliothekar gesagt hatte: ein Aufeinandertreffen sehr starker Energien.
Unsicher lächelte Norah zurück. "Hey", sagte sie mehr zu Carter als zu dem Bibliothekar, der ihr aber trotzdem freundlich zunickte.
"Miss Abignail hat sie beide eingeteilt, heute beim Aufräumen der Bibliothek zu helfen. Die Schüler hier sind immer sehr unachtsam und lassen die Bücher überall liegen", der Bibliothekar schüttelte verärgert den Kopf.
"Okay", sagte Norah und folgte dem weißhaarigen Mann in das Innere der Bibliothek. Carter folgte den beiden.
"Sie müssen einfach nur schauen, welche Signaturen die Bücher haben, die hier so rumliegen und sie dann in die richtige Abteilung einsortieren. Am besten achten sie auch darauf, ob in den jeweiligen Regalen falsche Signaturen sind und bringen die Bücher notfalls dorthin, wo sie wirklich hingehören." Nachdenklich kratzte er sich am Kopf, während er die beiden anschaute und darüber nachdachte, ob es noch irgendetwas zu erklären gab. "Ja", sagte er schließlich, "das war es eigentlich auch schon. Sie sehen, so böse kann ihnen Miss Abignail nicht gewesen sein. Es gibt zumindest deutlich fiesere Strafarbeiten." Er lächelte und ging zu einem der Tische am Fenster herüber, auf dem sich einige Bücher stapelten. Er nahm einen Stapel und drückte ihn Norah mit einem Zwinkern in die Hände.
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Die Wächter - BEGABT (Bd 1)
Fiksi Remaja"Als sie die Augen öffnete, stand die Welt still..." Du wirst nicht als Wächter geboren. Du wirst als Begabte geboren und dann musst du dich entscheiden: stellst du deine Gabe in den Dienst der Wächter, die sich für das Gute auf der Welt einsetzen o...