Die Wächter - BEGABT (Bd 1)

#7.1

Norah starrte Carter verständnislos an. Warum bekam sie an dieser Schule eigentlich ständig Warnungen zu hören, aber nie wurde auch nur irgendwer konkret dabei.

"Wer will mich?", fauchte sie und entlud ihren Ärger auf den armen Carter, der sie, wenn sie dem Glauben schenken konnte, doch bloß warnen wollte.

"Die Wächter."

Mit einer Antwort hatte Norah nicht unbedingt gerechnet. Immerhin hatten ihre Gespräche mit Cameron auch schon so geklungen und er war allen Nachfragen immer ausgewichen. Zufriedenstellend war diese Antwort trotzdem nicht. Natürlich wollten die Wächter sie in ihren Kreis aufnehmen. Das wollten sie mit so ziemlich allen Schülern hier tun. Darum waren sie alle schließlich hier, oder nicht?

Ein Blick in Carters ernstes Gesicht verriet Norah, dass es vielleicht doch nicht so einfach war. ER sah sie durchdringend an, fast so, als erwarte er eine ERkenntnis von ihr.

"Die Wächter wollen uns alle, oder nicht? Darum sind wir hier.", äußerte Norah ihre Gedanken und erntete dafür einen enttäuschten Blick von Carter.

"Ich hatte dich für klüger gehalten", antwortete Carter und wollte sich von ihr abwenden, doch Norah packte ihn am Arm und hielt ihn davon ab. Der Schmerz in ihrem Kopf war zum Zerbersten. Hatte der Kontakt zwischen ihr und Carter ihn gerade verstärkt? Norah schüttelte diesen Gedanken ab und holte zum Gegenschlag aus.

"Was soll das heißen?", zischte sie beleidigt. Sie war klug. Das musste aber nicht bedeuten, dass sie innerhalb der kurzen Zeit diesen gesamten Wächter-Hokuspokus durchschaut haben musste. Carter wandte sich wieder ihr zu. Zu ihrer Verwirrung lächelte er.

"Vielleicht auch doch nicht. Ich hatte gleich das Gefühl, dass du Dinge stärker hinterfragst als die meisten anderen hier." Norah spürte die Röte in ihr Gesicht steigen. War das ein Kompliment?

"Aber ein bisschen Hilfe brauche selbst ich!", konterte sie selbstbewusst.

"Die wirst du bekommen, wenn du mit den richtigen Leuten abhängst.", erwiderte Carter gelassen.

"Und du zählst dich dazu?", das war natürlich eine rhetorische Frage.

"Wen zählst du nicht dazu?", Norahs Neugierde war nun endgültig geweckt. Was ging hier vor sich?

"Deine Leute sind ganz okay, glaube ich", gestand Carter nun ein und befreite seinen Arm aus ihrer Hand. "Nicht die hellsten vielleicht", das war eindeutig eine Anspielung auf Sidney. Sie war zwar relativ begabt, was den Einsatz ihrer Kräfte anging, aber sonst war sie eher etwas beschränkt. "Aber Allie ist schon ziemlich cool." Okay, wenigstens hatte Norah sich die richtigen Freunde ausgesucht.

"Was ist mit Cameron?", fragte sie zögerlich, unsicher, ob sie Carters Meinung zu ihm hören wollte.

"Norah", Carter sah ihr direkt in die Augen und packte sie bei den Schulter. Der Schmerz war unglaublich stark. "Du musst nicht jeden Schüler hier hinterfragen. Die meisten hier sind ohnehin noch unentschieden. Was du hinterfragen solltest, sind die Art des Unterrichts und die Intentionen der Wächter beziehungsweise", er hielt kurz inne, wie um sich zu sammeln und fuhr dann mit gedämpfter Stimme fort: "beziehungsweise die Intentionen einiger Wächter. Es sind nicht alle..." Er behielt die letzten Worte für sich, als er ein Geräusch vernahm, dass langsam näher kam. Die Tür zum Korridor wurde aufgestoßen und Miss Abignail näherte sich ihnen mit einem wütenden und strengen Ausdruck im Gesicht.

"Was tun sie zwei noch hier?", fragte sie mit überraschend ruhigem Tonfall. "Es ist Nachtruhe und das schon seit fünfzehn Minuten!"

Irritiert starrte Norah sie an. Nachtruhe? Hatte sie wirklich so lange mit Carter hier herum gestanden?

"So leid es mir tut", Miss Abignail war vor ihnen zum Stehen gekommen, "aber morgen früh erwartet sie beide eine Strafarbeit. Seien sie um 6 in der Bibliothek! Und jetzt ab ins Bett!", damit drehte sie sich um und bedeutete den beiden, ihr in Richtung Schlafsäle zu folgen. Warum war sie nicht fünf Minuten später hier aufgetaucht? Morgen früh bei der Strafarbeit würde Norah versuchen, noch mehr aus Carter, der jetzt mit versteinerter Miene hinter der Schulleiterin her marschierte, heraus zu bekommen.