# 20.2

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Ihr habt nun wieder so lange treu gewartet, hier also endlich wieder ein Update! Viel Spaß damit :)

Norah stand vor Angelinas Zimmertür und zögerte. Sie spürte noch immer die feuchten Stellen auf ihrer Wange, wo Tränen ihre Haut benetzten. Sie wollte nicht verheult hier auftauchen, aber andererseits stand sie zu ihren Gefühlen und den salzigen Spuren ihrer Trauer. Carter hatte ihr Trost gespendet, sie aber auch von Neuem aufgewühlt. Nie hatte sich Norah so gefühlt wie in diesem Augenblick. Nie hatte sie einen Menschen verloren, den sie geliebt hatte. Nie hatte sie für zwei Menschen gleichzeitig solch tiefe Zuneigung empfunden. Nie war sie entschlossener und unsicherer zugleich gewesen. Sie atmete tief ein und hob die zur Faust geballte Hand an die Holztür. Sie hatte nur einmal geklopft, da wurde die Tür bereits von innen aufgerissen und im Spalt erschien Angelinas stets aufmerksames, ernstes Gesicht. Wie immer trug sie schwarz und ihre hellblonden Haare fielen offen und glatt über ihre Schultern. Fragend hob sie eine Augenbraue.

"Ich muss mit dir reden!", beeilte sich Norah, zu sagen, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Angelina nickte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen und öffnete die Tür etwas mehr, damit Norah an ihr vorbei in das Zimmer treten konnte. Norah wusste nicht, was sie erwartet hatte. Vielleicht, dass Angelinas Zimmer größer sein würde, weil sie bereits zu den Wächtern gehörte, oder dass es zumindest weniger schlicht eingerichtet war. Aber dem war nicht so. Angelinas Zimmer glich dem von Norah und Allie und versprühte in keinster Weise den Eindruck von Luxus oder Angelinas Sonderstatus als Wächterin. Im Gegensatz zu Norah hatte sich Angelina nicht einmal die Mühe gemacht, es sich hier heimisch und gemütlich einzurichten. Keine Bilder verzierten die Wände, keine Pflanzen brachten etwas Farbe in den weiß gestrichenen Raum mit den schlichten Holzmöbeln. Mit einem leisen Klicken schloss Angelina die Tür hinter sich und Norah und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an ihren Kleiderschrank. Ihr Blick war ernst, fragend und erwartungsvoll.

"Es tut mir leid, dass ich einfach losgerannt bin.", sagte Norah mit etwas zittriger, unsicherer Stimme. Obwohl Angelina nicht so viel älter war als sie selbst, hatte sie großen Respekt vor ihr.

Angelina sagte noch immer nichts, sondern musterte Norah nur weiterhin mit ihren bohrenden, wissenden Augen. Nervös wischte Norah sich über ihr Gesicht, damit die Tränen nicht mehr so auffielen und damit ihre Hände etwas zu tun hatten.

"War's das?", fragte Angelina schließlich. Ihre Stimme verriet keinerlei Emotionen.

"Nein", Norah ließ sich auf Angelinas Schreibtisch nieder und verschränkte ihre Hände in ihrem Schoß.

"Gut", Angelinas Lippen verzogen sich zu dem Anflug eines Lächelns. Norah schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und versuchte, ihrem Blick standzuhalten, während sie die nächsten Worte aussprach, die ihr Leben für immer verändern würden.

"Ich will den Wächtern beitreten."

Es war raus. Sie hatte es gesagt. Sie hatte sich entschieden. Norah holte tief Luft und versuchte, ihren vor Aufregung beschleunigten Herzschlag wieder etwas zu beruhigen. Angelinas angedeutetes Lächeln wurde breiter und erreichte nun auch ihre Augen.

"Das Mädchen, das es nicht einmal wenige Minuten schafft, einen klaren Kopf zu bewahren und einfach losrennt, will sich einer Gruppierung verschreiben, deren Handeln taktisch, durchdacht und selbstlos ist?" Angelinas Ton war amüsiert.

"Ja", Norah nickte und versuchte, es zu ignorieren, dass Angelina ihr vorwarf, unüberlegt und unklug gehandelt zu haben.

Angelinas Blick wurde wieder ernst und das Lächeln verschwand. Sie zog sich ihren Schreibtischstuhl heran und ließ sich so auf der Kante nieder, dass sie jederzeit wieder aufspringen konnte. "Zumindest den Anspruch der Selbstlosigkeit erfüllst du", sagte sie und in ihrem Gesicht spiegelte sich der Denkprozess, der in ihrem Kopf ablief. Eine Weile saßen sie sich so gegenüber.

Sie musterte Norah skeptisch, wobei ihr stets wachsamer und meist ernster Blick, der sie so erwachsen und selbstbewusst und stark wirken ließ, noch strenger als sonst wirkte. Dabei wusste Norah, dass sie auch lächeln konnte. Dass sie ein guter, hilfsbereiter, ehrlicher Mensch war.

"Bist du dir wirklich sicher?", fragte sie dann und in ihrer Stimmung schwang Aufregung mit, die überhaupt nicht dazu passte, wie gelassen sie sich gab.

Norah nickte. "Ja."

"Nun gut. Wie du dir sicherlich denken kannst, entscheide ich das nicht alleine. Ich werde dein Anliegen den Wächtern vortragen und wir werden alle gemeinsam darüber abstimmen." Sie strich sich ihre langen, blonden Haare hinter ihr Ohr und stand auf. Mit einer Hand an der Klinke ihrer Tür fragte sie: "War's das?"

Norah schüttelte den Kopf. "Ich muss dich noch etwas fragen."

Sie zog eine Augenbraue hoch, erwiderte jedoch nichts.

Norah holte tief Luft. Das Gespräch heute war anders als ihr Geplauder im Wald, als Norah vor ihren Gefühlen geflohen war oder als ihre Zusammenarbeit, als die Abtrünnigen die Schule angegriffen hatten.

"Wer ist August Blake?", fragte sie schließlich und erinnerte sich an die Zeitungen, die Cam und Carter durchsucht hatten. Sie dachte an ihren Traum, bei dem sie durch eine Schule geirrt war und an einer Tür gelauscht hatte, bis diese aufgerissen worden war und ihr dieses harte, seltsam vertraute Gesicht entgegen geblickt hatte. Sie dachte an den Mann am Pavillon, der Carter verletzt und behauptet hatte, dass er und die anderen Abtrünnigen ihretwegen dort gewesen waren.

Als Norah wenig später wieder über die Flure eilte, waren die Tränen versiegt und etwas bohrte sich in ihre Gedanken, was sie nicht mehr losließ und sie zum ersten Mal Allie vergessen ließ. Etwas, was Angelina zu ihr gesagt hatte. Etwas, was ihr schon sehr viel früher hätte auffalen sollen. Es nagte an Norah und ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihr breit. Ob sie das alles hätte verhindern können? Ob sie Allies Tod - nun drängte sich der Gedanke doch wieder in ihr Bewusstsein - hätte abwenden können? Und was hatte ihr letzter Traum wohl zu bedeuten, in dem sie durch die Flure dieser Schule geirrt war, wenn es kein Traum, sondern eine Zukunftsvision gewesen ist? Konnte man die Zukunft verändern oder war der Weg längst festgeschrieben und unveränderlich, so wie die meisten Dinge der Vergangenheit? Norahs Schritte beschleunigten sich. Sie musste zu ihm.

Ich frage jetzt mal ganz klassisch: Team Carter oder Team Cameron?

Und was glaubt ihr, hat es mit Norahs Träumen auf sich?

Wie immer freue ich mich über Feedback, Anregungen, Meinungen, Kritik ;)

Die Wächter - BEGABT (Bd 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt