# 16.1

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Der Wecker riss Norah unsanft aus dem Schlaf und für einen kurzen Augenblick war sie völlig orientierungslos. Sie erinnerte sich daran, wie sie und Cameron in seinem Zimmer geredet hatten. Sie erinnerte sich an seine Eifersucht, die sie klar und deutlich gespürt und in seinen Gedanken gelesen hatte. Sie erinnerte sich an den Kuss und Cams unendliche Erleichterung, als sie ihm von ihrem Training mit Carter erzählt hatte. Doch sie erinnerte sich an noch etwas und es jagte ihr eine kalten Schauer den Rücken hinunter. Sie hatte in Cams Armen gelegen und seine Gedanken und Gefühle hatten sie wie eine dichte, wabernde Wolke umgeben und sie hatte sich unendlich eingeengt gefühlt. Seine Gefühle für sie waren so besitzergreifend und überwältigend stark gewesen, dass es ihr schon fast Angst machte. Irgendwann hatte sie sich von ihm verabschiedet und hatte Sid und Allie im Gemeinschaftsraum Gesellschaft geleistet, aber sie war nur halb anwesend gewesen und hatte ihre Gespräche kaum verfolgt.

Nun lag sie in ihrem Bett, starrte an die Decke und fühlte dieses Unbehagen in sich, ohne es recht zuordnen zu können. Doch es half nichts: sie musste aufstehen, duschen und frühstücken, damit sie rechtzeitig zum Unterricht kam. Heute hatte sie Basiswissen für Begabte (wie sich gezeigt hatte, wurde das Fach überall mit BWB abgekürzt, im Gegensatz zu dem Fach, das sie im nächsten Semester haben würde: GWZ - Grundwissen für Zeitenwandler) und sie war wirklich gespannt, was sie dort erwarten würde, weil Mr Howard ja verschwunden war.

Norah schob sich gähnend aus ihrem Bett und schnappte sich ein Handtuch aus ihrem Schrank. Im Bad herrschte zwar geschäftiges Treiben, aber Norah fand schließlich noch eine freie Duschkabine und somit konnte der Tag starten. Nunja, das musste er zumindest.

Das erste, was Norah auffiel, als sie die Steintreppen hinunter ins Foyer stieg, waren die zwei schwarzgekleideten Männer, die links und rechts das Eingangstor zur Schule säumten. Ihr Ausdruck war ernst und verriet, dass mit ihnen nicht zu spaßen war. Als sie an ihnen vorbei in den Speisesaal huschte, nahm sie weitere Männer und auch Frauen in derselben dunklen Kleidung war, die allesamt in Ecken positioniert waren, aus denen sie den Saal gut überblicken konnten. Sie alle ließen ihre Blicke wachsam und geduldig über die Köpfe hinweggleiten.

Norah verlangsamte ihre Schritte und steuerte auf ihren Stammtisch zu. Bildete sie sich das bloß ein oder folgten ihr gerade zig Augenpaare von schwarz uniformierten Wächtern?

Als sie an dem Tisch ankam, war sie überrascht, dass alle da waren. Katy, Peeta, Nick, Cameron, Carter, Allie und Sid. Sie alle saßen da und schwiegen. Ihre Blicke huschten verunsichert zwischen den Wächtern hin und her und auch als Norah sich zu ihnen setzte, kam kaum eine Reaktion.

"Das sind sie", flüsterte ihr Allie zu, "Miss Abignails Sicherheitsvorkehrungen."

Norah nickte stumm und griff nach einem Stück Vollkornbrot mit Käse.

"Welche Gaben haben die wohl?", fragte Sid und beugte sich dabei näher zu Norah und Allie herüber.

"Vermutlich von allem etwas", sagte Cameron und rückte nun zu Norah rüber, um ihr einen Arm um die Taille zu legen.

"Irgendwie fühle ich mich mit denen nicht sicherer, sondern einfach bloß observiert", merkte Carter kühl an und Norah schaute zum ersten Mal an diesem Morgen zu ihm herüber, doch er sah sie nicht an. Sein Blick schweifte ziellos durch den Raum und das Essen auf seinem Teller war noch unangerührt. Norah hatte inzwischen herausgefunden, wie sie in die Gedanken und auch ein Stück weit in die Gefühle anderer Menschen eintauchen konnte, doch bei Carter war es nicht ihre Gabe, die ihr sagte, dass er unglücklich war. Sie spürte es viel tiefer, dort, wo ihre eigene Energie verankert war. Ob das etwas mit ihrer Verbindung zu tun hatte?

Mit einem Mal verstummten alle Geräusche und Gespräche um Norah herum und als sie nach dem Grund dafür suchte, erkannte sie die zierliche Schulleiterin auf der Bühne. Sie stand den Schülern zugewendete und wartete darauf, dass ihr die volle Aufmerksamkeit galt.

"Wie ihr seht, sind überall auf unserem Anwesen Sicherheitskräfte positioniert. Sie sind uns von dem Kreis der Wächter geschickt worden und sie werden euch nicht behelligen, aber wir erwarten von euch, dass ihr sie respektvoll behandelt. Sie sind zu eurem Schutz hier und wenn sie euch eine Frage stellen, beantwortet ihr sie. Der Unterricht von Mr Howard wird heute von mir übernommen. Das ist alles. Guten Appetit." Damit verließ sie die Bühne.

"BWB bei Miss Abignail?", grinste Allie und zwinkerte Norah zu. "Das dürfte interessant werden."

Und das war es. Die zierliche Schulleiterin führte streng und kompetent durch den Unterricht, doch was sie erzählte, war unglaublich interessant. Sie erklärte den Schülern die sieben Gaben und erwähnte Sonderfälle, in denen eine Person mehr als eine Gabe ausgebildet hatte. Dabei warf sie Norah einen knappen Blick zu, den sie sich allerdings auch eingebildet haben könnte. Allmählich litt sie unter Paranoia. Norah lauschte gebannt und schrieb so schnell es ging mit. Als sie anderthalb Stunden später den Raum verließ, brummte ihr der Schädel.

Der restliche Schultag verlief eher unspektakulär, da Norah auch viele normale Fächer wie Mathe und Englisch hatte, die sie im Vergleich zu allem Abnormalen eher langweilten. Außerdem machte sich in ihr zunehmend Aufregung breit, weil heute das erste inoffizielle Training von ihr und ihren Freunden stattfinden würde. Auf ihren Wegen durch die Schulflure fühlte sich Norah den ganzen Tag über schon beobachtet und als sie nun endlich aus ihrer letzten Stunde kam und die Steintreppe ins erste Obergeschloss hinauf eilte, spürte sie Blicke auf sich, die ihr unangenehm aufdringlich erschienen. Sie hatte mit den anderen abgemacht, sich für ihr extra Training in einem der leeren Klassenräume im zweiten Geschoss zu treffen und als sie nun die Tür öffnete und eintrat, sahen ihr bereits vier erwartungsvolle Augenpaare entgegen: sie waren alle schon da.

Die Wächter - BEGABT (Bd 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt