Als Norah endlich aus ihrer Strafarbeit entlassen wurde, wartete sie nicht auf Carter sondern stürmte mit dem Kopf voller Gedanken aus der Bibliothek. Sie rannte fast in Allie hinein, die gerade die Treppe zu dem Mädchentrakt heruntergeschlendert kam.
"Da hat es aber wer eilig", stellte Allie mit hochgezogenen Augenbrauen und einem frechen Grinsen auf den Lippen fest.
"Ja ich ähm", Norah wusste, dass sie wie ein totaler Volldepp klingen musste.
"Frühstück?", fragte Allie, wobei sie Norahs Gestammel völlig ignorierte.
"Auf jeden Fall!", Norah hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig sie während der Strafzeit geworden war.
"Du hast gestern was verpasst", stichelte Allie und legte Norah einen Arm um die Schultern, um sie in Richtung Speisesaal zu bugsieren.
"Äh", noch immer kam nur Murks aus Norahs Mund und sie ärgerte sich, dass sie so verlegen rumstammelte. Der Kuss mit Carter hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. "Was ist denn gewesen?", fragte sie schließlich und versuchte, möglichst neugierig zu wirken, damit Allie nicht registrierte, dass sie in Gedanken ganz woanders war.
"Riesen Zickenterror!", begann Allie nun, zu erzählen und klärte Norah auf dem Weg zum Speisesaal über irgendeinen Streit auf, den zwei Mädels, deren Namen Norah irgendwie etwas sagten und auch wieder nicht, vor versammelter Mannschaft gehabt hatten. Anscheinend war irgendein Typ Anlass für diesen Zirkus gewesen. Norah hörte mit halbem Ohr zu und nickte manchmal zustimmend, war letztendlich aber dankbar, als sie an ihrem Tisch ankamen, wo sie Sidney strahlend begrüßte. Auch Katy wünschte ihnen in ihrem französischen Sing-Sang einen guten Morgen, wandte dann aber ziemlich schnell wieder ihre gesamte Aufmerksamkeit Peeta zu. Ein Blick auf ihre verliebten Gesichter verriet Norah, dass sie da besser nicht störte und so ließ sie sich zwischen Sid und Allie plumpsen.
"Soso, Strafarbeit also", erhob Sidney nun das Wort und musterte Norah eingehend. "Wie kommt's, dass du erst so kurz hier bist und schon Ärger machst?" Ein provokantes Lächeln umspielte ihre Lippen, doch ihre Augen leuchteten freundlich, so dass es ziemlich klar war, dass es ihr reichlich egal war, ob irgendwer sich eine Strafarbeit einhandelte oder nicht.
"Zu spät noch auf den Fluren gewesen", klärte Allie sie auf. "Böses Mädchen", fügte sie lachend hinzu und zwinkerte Norah an.
"Was gab's denn so Spannendes auf den Fluren?", bohrte Sid nach und man sah ihr an, dass sie innerlich betete, dass es nichts mit Cameron zu tun hatte. Das war echt ein Schlamassel, dass Norah ausgerechnet mit dem Jungen etwas hatte, den Sidney toll fand.
"Carter", antwortete Norah wahrheitsgemäß und erntete erstaunte Blicke von Sidney und Allie. Bisher hatte sie ihrer Freundin nur anvertraut, dass sie zur Strafarbeit musste und deswegen nicht abends in den Gemeinschaftsraum kommen würde, aber nicht, weswegen sie diese Strafarbeit aufgebrummt bekommen hatte.
"Cam, Carter...Mensch, Norah, du hast es aber auch mit den Kerlen.", neckte Allie sie und knuffte ihr freundschaftlich in die Seite. Sidneys Ausdruck verdunkelte sich kurzzeitig, doch dann fragte sie in gespielt gleichgültigem Plauderton: "Und warum genau hängst du nach der Ausgehsperre noch in den Fluren mit Carter rum?"
"Er wollte mir nur was erzählen und wir haben etwas zu lange gelabert", wich Norah aus und schnappte sich ein Croissant und eine Tasse heißen Kakao, in den sie das leckere Gebäck eintunkte.
"Erzählen? Was?", hakte nun auch Allie neugierig nach.
"Naja", Norah wand sich unter ihren fragenden Blicken und überlegte kurz, wie viel sie ihren neuen Freunden wohl von Carters Warnung anvertrauen konnte. Zumindest hatte er ja gesagt, dass Allie und Co in Ordnung seien. Das konnte sie natürlich wirklich nicht erzählen.
"Nur, dass es Menschen gibt, die ihre Gabe missbrauchen und ich aufpassen soll.", sagte sie schließlich, was absolut nicht gelogen war, nur eben auch nicht die komplette Wahrheit.
"Dafür braucht man keinen ganzen Abend", stellte Sid schlicht fest.
"Ja, also wir haben uns dann noch ein bisschen über die Wächter und die Fähigkeiten unterhalten. Halt so Gedöns. Nichts Besonderes."
Zwar schien Sidney noch immer nicht zufrieden zu sein, aber sie fragte nicht weiter nach, sondern widmete sich wieder ihrem eigenen Frühstück. Doch Allies Neugierde war noch lange nicht gestillt.
"Und was hält Cameron davon, dass du so spät noch mit Carter rumhängst?", fragte sie.
"Er fand das ok.", antwortete Norah und spürte die Röte in ihre Wangen schießen, als sie an die Nacht mit Cam erinnert wurde.
Bei dem Klang seines Namens hatte auch Sidney wieder kurz Interesse gezeigt, blätterte jetzt aber in einem Mädchenmagazin, wobei ihr Desinteresse äußerst unglaubwürdig blieb.
Als Katy und Peeta sich händchenhaltend verabschiedeten (die beiden hatten von dem ganzen Gespräch überhaupt nichts mitbekommen), machten auch Allie und Norah sich auf, um ihren Samstag ein wenig im Freien zu verbringen. Sidney wollte nachkommen, weil es wohl noch irgendwas gab, was sie unbedingt erledigen musste. Da Norah Cameron an einem Tisch beim Frühstück erblickt hatte, würde sie auch nicht nochmal ins Zimmer müssen, um ihn zu wecken. Gott, der Gedanke an ihn in ihrem Bett war noch immer seltsam.
Sie winkte ihm kurz zu, während Allie sie hinter sich her aus dem Speisesaal zog und er winkte zurück, wobei sein Gesichtsausdruck allerdings ernst und ein wenig unglücklich wirkte. Erneut schoss das schlechte Gewissen durch Norah, doch eigentlich hatte sie nichts Schlimmes getan. Carter hatte sie geküsst und nicht umgekehrt! Sie würde ihn später fragen, warum er nicht gut drauf war. Außerdem würde sie später noch mit ihm über das reden, was Carter ihr erzählt hatte, über Energien, über die Wächter, über Vertrauen und Zweifel. Sie war sich inzwischen sicher, dass Cameron jemand war, mit dem man über all das reden konnte. Seine Tattoos waren ein unübersehbarer Beweis dafür, wie durch und durch gut er war.
DU LIEST GERADE
Die Wächter - BEGABT (Bd 1)
Teen Fiction"Als sie die Augen öffnete, stand die Welt still..." Du wirst nicht als Wächter geboren. Du wirst als Begabte geboren und dann musst du dich entscheiden: stellst du deine Gabe in den Dienst der Wächter, die sich für das Gute auf der Welt einsetzen o...