»29. Kapitel

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Mein Leben ist überhaupt nicht mein Leben. Ich lebe gerade in einem Traum. In einem ziemlich schlechten sogar.

Zum gefühlten fünfzigsten Mal ließ ich das harte Kissen geradewegs in mein Gesicht fallen. Wie meine momentane Stimmung war? 

Eindeutig im Keller. Wenn nicht sogar noch tiefer.

Da fuhr man extra tausende von Kilometer aus der eigenen Heimat weg, um von allen Problemen wegzulaufen und sich wenigstens für ein paar Tage zu entspannen, und was passiert? Ausgerechnet der Junge, den man sich als letztes in seinem Umfeld gewünscht hat, wohnt nur ein paar Häuserblocke von dir entfernt.

Seufzend drehte ich mich auf den Bauch und vergrub mein Gesicht in die weiche Matratze unter mir. Es war ja nicht so, dass ich ihn nicht mochte, doch ich hatte diesen Urlaub eigentlich als die kurzfristige Lösung für viele Probleme angesehen, aber ich würde dem größten wohl schlecht ausweichen können.

Außerdem war es mir echt ein Wunder wie groß ein Zufall sein konnte, das er in derselben Zeit zu demselben Ort fuhr, um dort seine Ferien zu verbringen. In meinen Augen war es kein Zufall, aber Liam hätte überhaupt nicht wissen können, das ich hier sein würde. 
Schließlich hatte ich es ihm nicht erzählt.

Ein frischer Luftzug ließ mich zittern. Seufzend drehte ich mich wieder um und schwang mich aus dem bequemen Bett. Mit hängenden Mundwinkeln tigerte ich kurz durch das kleine Zimmer, und steuerte auf den noch kleineren Balkon zu.

Jedes Mal, wenn ich hier war, spielte ich mit dem ernsthaften Gedanken für längere Zeit hier zu bleiben. Ich entlastete damit nicht nur meinen Vater, der ohnehin schon genug im Stress war, sondern auch mich selbst.
Aber dann könnte ich Zayn nicht mehr sehen, und das war ein Grund genug immer wieder nach Bradford zurückzukehren.

Langsam trat ich durch die schmale Tür hinaus ins Freie. Eine diesmal warme und angenehme Brise schlug mir entgegen und brachte meine Haare leicht zum Wehen. So wunderschön. Zwar war er gerade mal so groß, das maximal zwei Personen nebeneinander stehen konnten, doch dafür bot er einen atemberaubenden Anblick.

Von hier aus konnte man die Dächer der kleinen Reihenhäuser überblicken. Nach ein paar hundert Metern strahlte einem schon das klare, dunkle Blau des Meeres entgegen. Vereinzelte Segelschiffe tuckerten darauf herum, aber sie waren wiederrum schon so weit herausgefahren, dass sie nur noch weiße Flecken waren.
Ich erinnerte mich gerne daran zurück, wie ich hier damals mit meinem Vater im Wasser herum geplanscht hatte, während meine Mutter sich faul in der Sonne geräkelt hatte.

Irgendwie vermisste ich diese Zeit sehr. Es war schön gewesen zu wissen, dass man eine richtige Familie hatte. Und die gemeinsamen Urlaube hier waren das Beste an allem gewesen. Doch dann hatte meine Mutter meinen Dad mit einem Arbeitskollegen mehrmals betrogen, und er hatte sich mit gebrochenen Herzen von ihr scheiden lassen.

Seit dieser Zeit stand ich meiner Mutter mit eindeutig gemischten Gefühlen gegenüber. Natürlich würde ich ihr nie verzeihen können, dass sie ihrem eigenen Mann das Herz aus der Brust, und ihn sowie mich gleichzeitig noch maßlos enttäuscht hatte, doch auf der anderen Seite war sie immer noch meine Mutter.

Gedankenverloren starrte ich in die Ferne, als sich plötzlich eine Stimme meldete.

Vielleicht solltest du dich mal bei ihr melden, hörte ich mein Gewissen flüstern, seit du hier angekommen bist hast du dich hier eingesperrt. Du bist hier, um Zeit mit ihr zu verbringen, statt dich über Liam aufzuregen.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht."

antwortete ich resigniert und stützte mich auf der Brüstung ab. Es war schon Nachmittag und die Sonne war bereits dabei den Himmel in ein schönes tiefrot zu verfärben, was das Panorama noch atemberaubender wirken ließ.

Ich verharrte noch für ein paar weitere  Minuten in dieser Position und verfolgte ein kleines Schiff, das sich gegen den Wind noch weiter hinaus kämpfte, bis ich leise Schritte wahrnahm, die sich meinem Zimmer langsam näherten.

Es vergingen nur ein paar Sekunden, bis es laut, jedoch vorsichtig an meiner Zimmertür klopfte.

„Darling? Möchtest du vielleicht mit mir mitkommen? Ein paar alte Freunde haben uns zum Abendessen eingeladen. Sie würden sich sehr freuen, wenn du auch erscheinst."

Oh mein Gott, sie hat sich dieses ‚Darling‘ ja immer noch nicht abgewöhnt. Genervt verdrehte ich kurz die Augen, ehe ich wieder in mein Zimmer hüpfte und zur Tür tapste. Mit schnellen Bewegungen drehte ich den Schlüssel im Schloss und öffnete sie.
Das erste, das ich sah, waren die großen Augen, die ich irgendwie... vermisst hatte.

„Wen meinst du denn mit ‚alten Freunden‘?"

erkundigte ich mich, und lächelte mein Gegenüber beruhigend an. Es war verständlich, dass sie sich nur verunsichert und oftmals auch nervös mir gegenüber verhielt. Schließlich hatte sich durch ihre Untreue nicht nur einen großen Teil der heilen Kindheit ihrer Tochter zerstört, sondern auch ein wenig Abneigung auf sie gezogen.

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