Kapitel 2

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Kunst kam niemals von Glück oder Freude im Leben. Wirkliche Kunst konnte durch Trauer oder Depressionen erschaffen werden, durch Angst oder Wut. Nur der Einfluss solcher Gefühle ließ die Kunstwerke erst besonders werden. Alle großen Künstler hatten ein beschissenes Leben, litten an tiefsten Depressionen und lebten am Rande der Verzweiflung. Die Werke von Munch stellten einen einzigen Angstschrei dar, die Enttäuschung von der Liebe. Paul Gauguin verlor zuerst seine eigene Familie an den Tod und vernachlässigte später seine neue. Und Van Gogh war ein so emotionales Wrack, dass er sich in einem Ausbruch seiner Emotionen sein eigenes Ohr abschnitt und anfing, gelbe Farbe zu essen, um die Freude in sich aufzunehmen.
Auch ich hatte schon immer gerne gemalt. Nur hatte ich das Gefühl, dass meine Bilder erst jetzt einen gewissen Charakter bekamen. Also stimmte es, dass die Kunst niemals von Glück oder Freude kam. Jede Nacht wachte ich mit solch einer schrecklichen Angst auf, dass mir der Gedanke an Schlaf vollkommen verhasst war. Die Auswirkungen meines Schlafmangels waren sogar für jeden deutlich sichtbar geworden. Auch wenn sie es auf eine gestörte Psyche schoben, an der ich Gerüchten nach litt. Aber ich hatte keine Depressionen und auch keine weiteren psychischen Probleme. Ich war auch nicht drauf und dran mir demnächst mein Ohr abzuschneiden, nur weil mir alles zu viel wurde. Alles, was ich wollte, war ein wenig erholsamer Schlaf und dass diese Träume endlich ein Ende fanden.

Gestern verbrachte ich den restlichen Tag bei einem örtlichen Arzt, der eine Panikattacke ausschloss und mir stattdessen Tabletten gab, um ordentlich durchschlafen zu können. Seine Diagnose war Schlafmangel. Und obwohl er recht hatte, traute ich mich nicht, die Tabletten zu nehmen, aus Angst, ich könnte sonst nicht mehr so schnell aufwachen und müsste länger in der Hölle bleiben. Also hatte ich auch diese Nacht wieder Albträume, aus denen ich aber recht schnell aufwachte und den heutigen Tag nicht in die Schule ging. Die freie Zeit nutzte ich, um mich meiner Kunst zu widmen. In meinem ganzen Zimmer verteilt hingen Landschaftsmalereien vom Strand oder von der alten Burg, die etwas außerhalb von Hastings stand. An sonnigen Nachmittagen waren Helen und ich oft dorthin gewandert und hatten uns ins Gras gelegt. Helen ließ sich stundenlang die Sonne ins Gesicht scheinen und hörte Musik mit ihrem Handy, während ich eine Leinwand und meine Utensilien dabei hatte, um zu malen. Helen war schon immer neidisch auf meine Künste gewesen, aber ich beruhigte sie, indem ich ihr ab und zu meine Gemälde überließ. Aus dem blauen Himmel und dem grünen Gras wurde nun allerdings der tote Wald und die roten Augen des Hundes, die ich in meinem Traum in der Schule gesehen hatte. Vorsichtig strich ich mit der roten Farbe erneut über die Augen, da sie nur halb so bedrohlich wirkten, wie sie in Wirklichkeit ausgesehen hatten und ging dann einen Schritt zurück, um die gruselige Stimmung zu betrachten. Ich hatte das Vieh gut getroffen. Bei dieser Erkenntnis überkam mich ein gewaltiger Schauer. Warum konnte ich nicht einfach weiter Gemälde von der Burg malen oder von den kleinen Geschäften in der Stadt?

Meine Zimmertür ging mit einem leisen Quietschen auf und Helen steckte ihren Kopf hinein.

"Hey, ich hab die Hausaufgaben dabei", sie trat nun ganz in das Zimmer und zog etwas hinter ihrem Rücken hervor, "Und Rabattcoupons für Joshs Lokal. Ich dachte, wir lassen die Hausaufgaben einfach links liegen und gehen stattdessen eine große Portion Fish&Chips essen. Was hältst du davon?"

Ich musste lächeln und nickte stumm. So ein Angebot konnte ich ihr gar nicht ausschlagen und ein bisschen Abwechslung würde mir wahrscheinlich auch ganz gut tun.

"Ich zieh mir nur noch schnell etwas Anderes an", ich legte den Pinsel weg, den ich immer noch in der Hand hielt und drehte mich zu meinem Kleiderschrank, aus dem ich mir einen kuscheligen Strickpulli herauszog. Ich streifte mir meinen viel zu großen Kapuzenpullover über den Kopf und tauschte ihn gegen den neuen aus. Als ich mich wieder umdrehte, sah ich, wie Helen vor der frischen Leinwand stand und mein neustes Bild kritisch betrachtete.

Hinter dem NebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt