Kapitel 9

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Jetzt

Es roch nach moderiger Erde, nass und verfault. Sofort überkam mich ein gewaltiger Hustenanfall. Ich hielt meine Hände vor meiner Brust verschränkt und würgte den Ekel aus meinem Leib hinaus. Der Geruch blieb, doch nach einiger Zeit des Würgens und keuchendem Atmens, wurde er erträglicher. Immer noch war mir so übel, dass mein Magen sich mehrfach umdrehte. Aber ich musste die Kontrolle behalten, das wusste ich. Langsam hob ich meinem Kopf und blinzelte gegen die fauligen Dämpfe an. Sie erhoben sich rauchartig und stiegen in den dunklen Himmel auf, wie der Dampf einer heißen Suppe. Ich kniff meine Augen stark zusammen und versuchte zu erkennen, wo ich mich diesmal befand, auch wenn ich es bereits am Geruch erahnen konnte. Durch den schmalen Spalt meiner Lider sah ich einen toten Körper, der bereits völlig verwest war und an dessen Schulter ich mich abstütze, seit mein Hustenanfall ein Ende genommen hatte. Ich wollte schreien, wusste aber, dass die Dämpfe meine Lunge augenblicklich füllen würden. Stattdessen riss ich meine Hand vom Körper los und stolperte nach hinten, wo sie erneut moderiges Fleisch fasste. Wieder wollte ich schreien. Der Geruch schien durch meine Nase zu wandern und sich in meinem ganzen Körper auszubreiten, dem einzigen Körper in diesem toten Meer, der noch am Leben war. Ich war bereits hier gewesen, ein einziges Mal. Von allen Welten war diese die schlimmste. Sie roch nach Tod und Schmerz, versetzte mich in Panik und ließ mich quälend langsam schwächer werden. Es war mir unmöglich, das Meer zu überqueren, die Leichen hinter mir zu lassen. So unmöglich wie es auch war, dem Tod zu entkommen. Ich wollte aufgeben. Das war immer die einfachste Methode. Alles, was ich tun musste, war, mich zu töten. Ich würde nicht wirklich sterben, sondern nur diesen Albtraum hier verlassen. Aber das war es, was von mir verlangt wurde. Das Totenmeer wuchs mit jedem, der nachgab. Jeder dieser Körper hier war eine verzweifelte Seele, die aufgegeben hatte. Sie schrien nicht, wie in den bekannten Darstellungen von der Hölle. Es loderte auch kein Feuer. Es war viel schlimmer. Stille, Gestank, Endlosigkeit, Verzweiflung, Tod.

Ich versuchte zu rennen, doch ich fiel, mein Kopf gequält von meinen Gedanken. In ihm fühlte es sich an, als würde ein gesamter Atomreaktor explodieren und das radioaktive Material verteilte sich rasend schnell in der Umgebung, in meinen Körper. Ich war verloren.

Doch da spürte ich einen festen Griff um meine Hand, gefolgt von dem Gefühl, einen Looping mit einer Achterbahn zu fahren.

Als ich meine Augen wieder aufschlug, sah ich grünes Gras, auf dem ich lag. Der Atomreaktor war verschwunden und es roch nach Blumen, anstatt nach Verwesung. In der Ferne hörte ich Vögel zwitschern. Diese Welt kannte ich definitiv noch nicht. Sie war viel zu schön, um wahr zu sein, viel zu harmonisch. Wo war ich?

Mit aller Kraft stützte ich mich auf dem Gras ab und versuchte, mich aufzusetzen. Mein Blick verschwamm leicht, fand aber schnell wieder zu seiner Klarheit zurück. Vor mir befand sich ein Paar Füße, das in alten Turnschuhen steckte. Ich schaute an den dazugehörigen Beinen hoch, über den Oberkörper, bis hoch zum Kopf. Helle Locken umspielten sein kantiges Gesicht, ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen und seine Augen glänzten in einem hellen Blau. Der Junge hielt mir seine Hand hin und ich ergriff sie, ließ mich von ihm auf die Beine ziehen. Er war größer als ich, ungefähr einen Kopf und von einer schlanken Statur. Sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, doch stattdessen starrte er mich einfach weiterhin an, beinahe fasziniert und als würde er mich kennen. Doch das war nicht möglich, denn ich hatte ihn noch nie gesehen.

"Du musst lernen, hinter dem Nebel zu wandern", sagte er schließlich in einer tiefen Stimme, die sich fest in mein Gehirn brannte, bevor sich das sonst so erlösende Gefühl in mir ausbreitete. Ich würde jetzt aufwachen. Seit unzähligen Monaten war es das erste Mal, dass ich lieber weitergeträumt hätte.

Mein Atem ging rasend schnell. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich ignorierte den moderigen Geruch und das Bedürfnis, irgendwelche Leichenrückstände von meinem Körper abzuwaschen. Das Sonnenlicht fiel sanft in mein Zimmer und schien auf meine Bettdecke. Es erinnerte mich augenblicklich an diese grüne Wiese. Ich schaute an meine blau gestrichenen Wände und dachte an den Himmel in meinem Traum. Es war so friedlich. Und dann war da dieser Junge. Er hatte mich dorthin gebracht. Er hatte mich gerettet. Du musst lernen, hinter dem Nebel zu wandern. Das war alles, was er gesagt hatte. Seine tiefe Stimme hallte in meinen Ohren. Doch was meinte er damit?
Ich setzte mich langsam auf und realisierte, dass ich keine Ahnung hatte, was dort gerade passiert war. Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Junge war, warum er dort war und was das alles zu bedeuten hatte. Das einzige, was in meinem Kopf umhergeisterte, war, dass ich ihn wiedersehen musste. Er hatte mich von diesem schrecklichen Ort zu dieser wunderschönen Wiese gebracht. Wer auch immer dieser Junge war, er wusste, wie ich meine Träume loswerden konnte. Da war ich mir ganz sicher. Den ersten Tipp hatte er mir bereits gegeben. Du musst lernen, hinter dem Nebel zu wandern. Was wollte er mir damit sagen? Das alles war immer noch so nah, doch trotzdem konnte ich einfach nicht glauben, das es tatsächlich passiert war. Dieser Junge war mein Schlüssel, nicht meine Mutter. Ich wollte meine Mutter nie wiedersehen und nun bekam ich die Chance, diesen Zwang einfach zu lassen. Ich musste sie nicht suchen, ich musste ihn suchen. Er konnte mir ganz bestimmt helfen. Diese ganze Situation war so unglaublich, dass ich vor Euphorie zu platzen drohte. Das alles konnte bald vorbei sein, für immer. Ich musste nur diesen Jungen finden. Vielleicht sah ich ihn auch schon heute Nacht wieder.
Voll Freude sprang ich aus meinem Bett und duschte ausgiebig, als ich den widerlichen Geruch von toten Menschen dann doch wahrnahm. Ganz plötzlich fiel mir auf, dass ich heute Nacht nicht gestorben war. Ich war einfach aufgewacht. Über diesen Gedanken lachte ich laut los. Was war bloß mit mir los? Würde mich in diesem Moment jemand sehen, wäre ich wahrscheinlich wirklich für verrückt erklärt worden. Doch dieser Moment war von nichts als Freude erfüllt. Dieser winzige Funken Hoffnung in meiner Brust war zum lodernden Feuer entflammt. Seit Wochen war ich endlich einmal richtig glücklich. Also griff ich heute sogar zum Mascara, der bislang nur die Ablage im Bad geschmückt hatte.

Hinter dem NebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt