Kapitel 1

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Eine Woche vorher...

Müdigkeit konnte aus einem Menschen einen völlig anderen machen. Man war gereizt, schlecht gelaunt und hatte auf gar nichts Lust, außer zurück in sein warmes Bett zu steigen. So erging es mir nicht, obwohl ich seit Tagen nicht mehr ordentlich geschlafen hatte. Die Albträume plagten mich. Und obwohl ich so schrecklich müde war, war Schlaf das Letzte, was ich wollte. Ich wusste genau, dass die Albträume mich überfallen würden, sollte ich schlafen. Also lief ich lieber wie ein Zombie durch die Schulflure, anstatt einen Tag zu Hause zu bleiben und diesen in meinem Bett zu verbringen. Ich hatte Angst, Angst vor den Nächten, Angst davor zu träumen und Angst davor, erneut Angst zu haben.

"Emma!", zwei dünne Arme schlangen sich von hinten um meinen ermüdeten Körper und begrüßten mich so zu einem neuen Tag in der Schule. Obwohl mir gar nicht danach war, musste ich lächeln.

"Hi Helen", grüßte ich meine beste Freundin zurück, befreite mich aus ihrem Klammergriff und versuchte mich möglichst gerade vor ihr aufzurichten, damit sie nicht bemerkte, wie schlecht es mir in Wirklichkeit ging. Sie wusste nichts von meinen Albträumen, niemand wusste es. Aber sie fingen an, sich Sorgen um mich zu machen. Man konnte mir ansehen, dass ich nicht viel schlief, immer dünner wurde und dazu nicht mal Appetit hatte. Wahrscheinlich dachten sie, ich hätte Liebeskummer, weil mein idiotischer Exfreund vor Kurzem mit mir Schluss gemacht hatte. Doch das war nicht der wahre Grund. Es hatte mich nicht überrascht, dass sich mein damaliger Freund Jason von mir getrennt hatte. Es machte ihm einfach mehr Spaß, anderen Mädchen hinterherzuschauen, die freizügiger gekleidet waren als ich. Wenn ich genauer darüber nachdachte, musste ich mir eingestehen, wie wenig mir unsere Trennung überhaupt ausmachte. Jason war zwar nett, aber für eine Beziehung unfähig. Es war gut so.
Trotzdem hielt ich es für besser, meine Freunde weiterhin in dem Glauben zu lassen, Jason wäre Schuld an meinem seelischen Zustand, als ihnen den wahren Grund zu erzählen. Sie sollten sich nicht nur noch mehr Sorgen machen.

"Was hast du denn schon wieder für Augenringe?", Helen legte eine Hand an meine Wange und inspizierte sehr genau mein Gesicht, bevor sie ihre Aufmerksamkeit dem Rest meines Körpers schenkte, "Du weißt, dass ich kein Problem mit Diäten habe, aber bei dir ist es sowas von unnötig. Du bist schön genug, wie du jetzt gerade bist."
Helen schenkte mir ein warmes Lächeln und ich wusste, dass sie mich mit solchen Sprüchen nur aufheitern wollte. Und genau das schätzte ich sehr an ihr. Sie wusste, wo meine Grenzen waren und sprach nicht über das Offensichtliche, solange nicht auch ich mich dazu in der Lage fühlte.

"Und du solltest dir mal lieber ein Beispiel an meiner Disziplin nehmen, Fetti", ich grinste sie an und kniff ihr spielerisch in die Wange, bevor ich mich umdrehte und Richtung Klassenraum lief.

"Du bist echt schrecklich!", Helen erschien wieder an meiner Seite und lachte, während sie dies sagte. Sie schien froh zu sein über diese ausgelassene Stimmung und darüber, dass ich Späße machte. Denn fett war sie keinesfalls. Helen war klein und eher zierlich, aber dessen war sie sich auch bewusst. Sie hakte sich bei mir ein und gemeinsam schlenderten wir zum Unterricht, wo Caty bereits auf uns wartete. Ihr Gesicht strahlte wie immer und ihre langen roten Locken fielen locker an ihrem Rücken hinab. Neben Helen gehörte sie zu meinen engsten Freunden. Wir drei kannten uns schon seit einer Ewigkeit, hatten zusammen im Sandkasten gespielt und uns mit Schlamm beworfen. Da mein Vater viel zu viel arbeitete, hatte ich meine Nachmittage als kleines Mädchen hauptsächlich mit ihnen verbracht. Sie waren meine Familie.

"Guten Morgen, Caty!", begrüßte Helen sie stürmisch, "Emma ist heute sehr gut gelaunt. Zu gut, wenn du mich fragst."
Helen schmunzelte und Caty schaute uns beide nur verwirrt an. So einen euphorischen Morgen hatten wir seit einiger Zeit nicht mehr, nicht seit die Albträume angefangen hatten. Doch den Gedanken an meine persönliche Hölle und meine Müdigkeit schob ich für einen Moment zur Seite und konzentrierte mich auf meine zwei Freundinnen, die endlich mal wieder mit mir gemeinsam lachen konnten. Diese gute Laune ließen wir uns nicht nehmen, zumindest solange nicht, bis der Unterricht anfing. Nach etwa einer halben Stunde, in der wir alle unserem Mathelehrer lauschten, der wichtige Gleichungen löste und nebenbei erklärte, wie er dabei vorging, wurden meine Augenlider immer schwerer. Immer wieder fielen sie zu, doch ich schreckte auch immer wieder hoch. Ich durfte nicht einschlafen, schon gar nicht im Unterricht. Doch genau das geschah.

Hinter dem NebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt