Ich mochte Rätsel noch nie. Immer schon hatte ich Spiele gehasst, bei denen man Fragen beantworten und Aufgaben lösen musste. Denn ich hasste es auch, zu versagen. Es bedeutete, dass man gescheitert war, dass man nicht alles schaffen konnte. Mein Vater sagte mir immer, ich könne alles schaffen, was ich wollte. In meinem kindlichen Ich hatte dies etwas ausgelöst. Ich glaubte daran. Glaubte, ich hätte eine echte Chance je meine Mutter zu finden. Doch zu oft wurde ich enttäuscht. Das Leben zeigte mir, dass der Satz meines Vaters keine Bedeutung hatte, dass er falsch war. Natürlich konnte man alles dafür geben, seine Wünsche zu erfüllen, aber vieles war schlichtergreifend unmöglich. Man konnte nicht jedes Rätsel lösen, das nicht gelöst werden wollte. Das Schicksal spielte eben doch noch eine enorme Rolle. Nach allem, was ich durchmachen musste, war es nun zum ersten Mal auf meiner Seite, solange ich Henry vertrauen konnte. Ich hatte aufgehört, nach meiner Mutter zu suchen, denn ich brauchte sie nicht. Das wusste ich seit langem. Aber Noah brauchte ich, mehr als alles andere in meinem Leben. Er war mein Rätsel und Henry war offensichtlich der einzige Weg, dieses Rätsel zu lösen, so gerne ich auch darauf verzichtet hätte. Dieses Rätsel aber musste gelöst werden.
"Schicker Roller", entglitt es spöttisch meinen Lippen, als ich Henrys knallrotes Gefährt erblickte. Auf dem Sitz lagen zwei Helme, die er gerade darauf platziert hatte. Als er sich zu mir umdrehte, zierte auch sein Gesicht ein Grinsen.
"Bitte entschuldige, dass es sich hierbei um keine goldene Kutsche handelt", erwiderte Henry und stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Lenker ab, was zugegeben ziemlich heiß aussah, auch wenn es nur ein Roller und kein Motorrad war. Aber er war rot und konnte doch allein deshalb schon als Rennwagen durchgehen.
"Ich vermute, die Kutsche ist leider bereits abgefahren, nicht wahr?", spielte ich das Spiel weiter. Er lächelte und stieß seinen Körper vom Roller ab, um einen Schritt auf mich zuzugehen.
"Wahrheit. Tut mir wirklich sehr leid", sagte er knapp.
"Tja, also muss der Roller wohl reichen", entgegnete ich mit einem leichten Lächeln, da er einen weiteren Schritt in meine Richtung gesetzt hatte. Er trug ein würziges Parfüm, was mir sofort in die Nase steig. Es erinnerte mich an einen vollen Gewürzgarten, wie er hinter Helens Haus blühte. Für meinen Geschmack ein wenig zu intensiv. Zum ersten Mal nahm ich mir etwas Zeit, um ihn näher zu betrachten. Er tat offensichtlich dasselbe, denn wir beide waren still. Es kam mir merkwürdig vor, wie wir einfach nur dastanden und uns anschauten. Doch ich nahm seine Augen wahr, die so tiefengrau waren, wie eine Regenwolke am Himmel.
"Du siehst müde aus", unterbrach Henry schließlich den stillen Moment und wandte sich rasch ab, als hätte ihn etwas gestochen "Ist das Bett etwa zu unbequem?"
Ich kam zu mir und schluckte hart: "Nein, alles in Ordnung. Ich schlafe nur nicht besonders viel." Henry sagte nichts, sondern schaute nur seinen Roller an. Es schien als atmete er tief durch.
"Also Emma", er griff nach einem Helm und reichte ihn mir, "Wollen wir?"
Ich nickte und nahm ihm den Helm ab, um ihn kurz darauf über meinen Kopf zu ziehen.
Ich war so nervös, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Erst jetzt wurde mir tatsächlich bewusst, wie nah ich Noah war. Ich würde ihn in kurzer Zeit sehen, real vor ihm stehen, nicht nur im Traum. Er konnte mich nicht zurück in die Schattenwelt bringen, denn dies war das echte Leben. Alles, was ich zu befürchten hatte, war, dass er mir die Tür vor der Nase zuschlug.Zögernd legte ich nach Aufforderung meine Arme um Henrys Oberkörper, um nicht vom roten Flitzer zu fallen, der bestimmt keine 50 km/h fahren konnte. Ich presste mich gegen ihn und schreckte auf, als er den Motor startete, der fortan laut vor sich hin ratterte, als würde er gleich qualvoll verenden.
"Bereit?", hörte ich Henrys Stimme gedämpft durch die dicken Wände des Helms. Er schien zu schreien, damit überhaupt ein Ton bei mir ankam. Weil ich nicht zurück schreien wollte, hob ich einfach meinen Arm und hielt meinen ausgestreckten Daumen direkt vor sein Gesicht. An dem leichten Vibrieren seines Brustkorbs merkte ich, dass er lachte.
Henry fuhr los und das doch nicht so langsam, wie ich dachte. Wir glichen natürlich keinem Porsche, aber auch keinem Trecker. Ich mochte es sehr. Ich mochte es, den Wind zu spüren und mich an Henry zu klammern, obwohl ich ihn nicht einmal kannte. Doch weder all meiner Zweifel und der meiner Freundinnen, mochte ich auch ihn in gewisser Weise. Er war wirklich witzig.Wir fuhren durch die kleine Stadt mit einem rasanten Tempo. Durch den Helm konnte ich die Umgebung nur mit Tunnelblick betrachten. Meine Wangen wurden zusammengepresst und mein Kopf schwitzte durch die vielen Polster im Helm. Trotzdem fühlte ich mich toll. Toll und jung. Ich dachte, dass es genau so etwas war, das ich immer tun sollte. Ich sollte in Städte fahren, die ich nicht kannte, auf den Roller eines Fremden steigen und den Wind spüren. Mein Leben hatte ich immer nur mit Landschaften, einer Leinwand und Fish and Chips verbracht. Es war langweilig, das wurde mir nun bewusst. Natürlich war dieser Trip nur ein Akt der Verzweiflung. Aber er zeigte mir, was ich wirklich wollte. Ich wollte mehr sein.
Henry lenkte den Roller immer weiter aus dem Stadtzentrum heraus. Wir entfernten uns von all den dichten Häusern und kamen zu einer engen kleinen Straße, die von zahlreichen Bäumen umgeben war. Die Häuser hier standen weit auseinander. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als Henry vor einem hölzernen Eingangstor stehen blieb und den Motor ausstellte. Er zog sich den Helm vom Kopf und stieg vom Roller. Seine lockigen Haare waren nun vollkommen zerzaust. Schweigend betrachtete er mich, wie ich mich kein Stück bewegte und das Tor anstarrte. Aber ich hatte Angst davor, den Helm, meinen Schutzwall, abzusetzen und diese Klingel zu betätigen. Ich würde einem Jungen gegenüber stehen, den ich lediglich aus meinen Träumen kannte. Dieses Gefühl war einfach nur merkwürdig. Ich war wie versteinert.
"Geht es dir gut? Wir sind da. Das war es doch, was du die ganze Zeit wolltest", sagte Henry, hielt dabei immer noch seinen Helm in den Händen. Ich schluckte, weil ich ihm in diesem Moment am liebsten gefragt hätte, ob wir wieder umdrehen könnten. Aber ich wusste, dass Noah mir helfen konnte.
"Ich musste bloß kurz durchatmen", erwiderte ich schließlich und zog meinen Helm über den Kopf. Meine Haare standen vermutlich zu allen Seiten ab, also strich ich sie rasch glatt.
Henry jedoch betrachtete mich immer noch zögerlich. Ich spürte, dass ihm etwas auf den Lippen lag, aber er sich selbst daran hinderte, es zu sagen. Vermutlich zweifelte er nun doch daran, dass ich eine verrückte Stalkerin war, die Noah durch das Internet bis zu ihm nach Hause verfolgt hatte. Doch wenn er dies von Anfang an tatsächlich geglaubt hatte, warum hätte er mich dann direkt zu ihm gebracht? Er musste wissen, dass es mir verdammt ernst war, dass es mir wichtig war.
Wahrscheinlich dachte er trotzdem ich sei verrückt.
Endlich riss ich mich zusammen, streckte meine Hand aus und hielt Henry den Helm hin."Danke fürs Bringen. Du warst wirklich eine große Hilfe", sagte ich mit einen leichten, nervösen Lächeln, während er mir den Helm abnahm.
"Ich bringe dich noch zur Tür", erwiderte Henry und legte rasch die Helme auf den Sitz des Rollers. Dann drehte er sich zum Tor um und zog es auf, als hätte er es schon tausende Male getan. Noah musste tatsächlich sein bester Freund sein, denn er kannte sich hier offensichtlich sehr gut aus, so zielstrebig wie er auf die Haustür zusteuerte. Ich selbst folgte ihm mit pochendem Herzen und langsamen Schritten. Ich achtete nicht auf die großen Tannen, die das ganze Haus von jeglichem Licht abschotteten und es in einen trüben Schatten legten. Es wirkte alles düster und einsam. Das Haus selbst war klein und schien zwischen den Bäumen zu verschwinden. Es war umgeben von einer schmalen überdachten Veranda, die ich nur aus amerikanischen Filmen kannte. Sie musste dem Inneren des Hauses nur noch mehr Tageslicht nehmen, das so oder so schon fehlte.
Henry blieb vor der Tür stehen und schaute zu mir, wie ich langsam die drei Stufen zu ihm ging. Meine rechte Hand spielte mit den Fingern meiner linken. Dies war etwas, das ich immer tat, wenn ich nervös war. Doch in diesem Moment war meine Nervosität nicht zu übertreffen. Eigentlich hätte ich mir schon längst alle Finger brechen müssen. Anscheinend merkte Henry wirklich, wie sehr mir diese Begegnung zur Last fiel, denn er kam einen Schritt auf mich zu, legte eine Hand auf meine Schulter und lächelte mich an."Hey, was auch immer zwischen Noah und dir abgeht, es wird sich schon alles klären", sprach er mir aufmunternd zu.
Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln, fasste Mut und drückte den Klingelknopf herunter. Eine Melodie von Bach ertönte. Mein Herz klopfte. Ich spürte Henry direkt hinter mir stehen. Und dann hörte ich das Knarren alter Treppenstufen, dann Schritte, die sich der Tür näherten, bevor sie rasant aufgezogen wurde. Dort stand er. Noah.
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Hinter dem Nebel
Fantasy"Ich wachte mit solch einer schrecklichen Angst auf, dass mir der Gedanke an Schlaf vollkommen verhasst war." Emma hat Albträume. Jede Nacht stellt sie sich ihren größten Ängsten und möchte ihrem Fluch entkommen, der ihr Leben bestimmt. Doch nicht n...