Kapitel 17

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Ich spürte die feuchte Luft, den kalten Wind, aber ich konnte nichts sehen außer weißem Nebel. Ich ruderte panisch mit den Armen, obwohl ich wusste, dass ich dann immer noch fallen würde. Kein Abgrund war in Sicht, es war absolut nichts in Sicht. Ich fiel, tiefer und tiefer und würde irgendwann auf dem Boden aufschlagen und erneut sterben. Noahs Worte von dem Zettel, den er mir zugesteckt hatte, kamen plötzlich in mein Gedächtnis. "Fantasie ist die einzige Waffe im Krieg gegen die Realität." Ich wusste bereits zu gut, dass meine Situation gerade real war, aber wie konnte mir meine Fantasie dabei helfen? Während ich weiter dem Tode entgegen raste, versuchte ich mir vorzustellen, ich hätte Flügel. Ich kniff meine Augen fest zusammen, auch wegen des starken Windes, der sie tränen ließ. Meine Gedanken ratterten und versuchten das Bild von großen starken Flügeln zu rekonstruieren, die mich trugen, weiß wie die eines Engels. Ich betete, doch ich befand mich immer noch im freien Fall. Durch den dichten Nebel konnte ich Wasser erkennen. Es war so dunkel, dass ich es bereits als schwarz bezeichnen würde. Die Wellen peitschten wild inmitten der riesigen Wassermassen, in denen keinerlei Land auszumachen war. Meine Augen brannten erneut durch den Zugwind, also kniff ich sie so fest zusammen wie es ging und bereitete mich mental auf den Aufprall vor, der mich definitiv durch die Wucht meines Falls töten würde. Dieses Mal könnte es wirklich zu Ende sein. Dies könnte mein Ende sein, für immer. Ich spürte eine mich feucht umhüllende Nebeldecke und kurz darauf weichen Boden. Mein Aufprall war sanft, fast als wäre ich geschwebt. Ich grub meine Finger in das nasse Gras und sog den Duft ein. dann hörte ich eine Stimme.

"Das war mal wieder knapp. Fast wärst du in tausend Teile zersplittert", Noah stand vor mir und blickte auf mich hinab. Ich konnte seinen Blick nicht deuten. Noah war wie eine verschlossene Schachtel, von der es scheinbar keinen Schlüssel gab. Diese Schachtel war aus Metall und das Schloss nicht zu knacken. Aber irgendwo musste ich doch den Schlüssel finden können. 

"Du hast dir Zeit gelassen, dabei warst du doch viel früher als ich im Bett", ich stand auf und klopfte mir den Dreck von meiner Pyjamahose, die vollkommen durchnässt war, "Deine Mutter hat immerhin dafür gesorgt."

"Du solltest endlich zurück nach Hause, dich von uns fern halten", erwiderte er abweisend und drehte sich von mir weg. Doch er ging er. Er stand einfach nur da und starrte auf das strahlend grüne Gras unter seinen Füßen. 

"Wie oft willst du mir das noch sagen? Und wie oft soll ich dir noch erklären, dass ich das nicht kann. Ich brauche dich, wirklich", ich trat einen Schritt auf ihn zu und fasste seine Schulter, um ihn sanft zu mir zu drehen, damit ich ihn ansehen konnte. Ich hatte gemerkt, dass alles Schreien und Brüllen nichts brachte. Ich musste dafür sorgen, dass er Mitleid mit mir hatte, auch wenn sich das eigentlich keiner wünschte. Anders würde ich allerdings nicht an Noah herankommen, an sein Inneres, das er so krampfhaft versuchte vor mir zu verstecken. Er stand nun vor mir und hob seinen Kopf.

"Du machst einen Fehler. Meine Mutter hätte dich heute fast gesehen. Das darf nicht nochmal passieren", seine Stimme klang vorwurfsvoll, aber nicht mir gegenüber, sondern eher gegenüber sich selbst. Als würde er sich die Schuld dafür geben. Dabei konnte ich mir nicht einmal erklären, warum er überhaupt so reagierte.

"Was ist mit deiner Mutter, Noah? Warum hast du solch eine Angst vor ihr?", fragte ich nun leise. Es kostete mich Überwindung das zu fragen, immerhin schien es ein ziemlich sensibles Thema für ihn zu sein. Aber ich wollte endlich mehr Klarheit, auch wenn ich mich in winzigen Schritten an die Wahrheit herantasten musste.

Noahs Augen weiteten sich und er rief verzweifelt aus: "Ich habe keine Angst vor meiner Mutter. Ich habe Angst um dich."

Mein Atem stockte. Warum sorgte er sich um mich? Wir kannten uns doch kaum. Noah wandte sich erneut von mir ab, als bereute er das eben Gesagte. Er fasste sich an den Kopf und raufte durch seine blonden Haare. Ich wusste nichts darauf zu erwidern so überrascht war ich von seinen Worten. Er musste also auch diese merkwürdige Verbindung spüren, die ich spürte. Obwohl wir uns kaum kannten und nichts voneinander wussten, gab es eine innere Verbindung, die ich mir nicht erklären konnte. Nun wusste ich, dass es Noah genauso ergehen musste. Andernfalls konnte ich mir nicht erklären, warum er sich um mich sorgte. Was seine Aussage allerdings nicht erklärte war, was das alles mit seiner Mutter zu tun hatte. 

Hinter dem NebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt