Kapitel 5

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Jeder Mensch hatte Geheimnisse, ob nun schwerwiegende oder unbedeutende. Und ebenso war jeder Mensch auch gewillt, diese Geheimnisse auch Geheimnisse bleiben zu lassen. Denn ein Geheimnis war kein Geheimnis mehr, wenn es jeder wusste. Trotzdem konnten sie einen Menschen innerlich zerstören. Es war schwer, alles für sich zu behalten und das Geheime in sich hinein zu fressen. Manchmal war es einfach an der Zeit, jemanden einzuweihen, dem man traute. Es war an der Zeit, sein Geheimnis verschwimmen zu lassen und es mit anderen zu teilen. Nur so konnte man langsam los lassen und auf Hilfe hoffen.
Mein Geheimnis war nicht schwerwiegend, schließlich hatte ich niemanden umgebracht oder so. Mein Geheimnis war auch nicht unbedeutend, denn mein seelischer Zustand verschlimmerte sich dadurch immer und immer mehr. Mein Geheimnis war ein Geheimnis, das ich nicht erzählen wollte, aus Angst, meine Freunde würden mich für vollkommen verrückt erklären und den Ernst der Lage nicht verstehen. Vermutlich würden sie mir nicht einmal glauben. Wer sollte sowas auch glauben können? Es war schlichtweg unmöglich. Doch ich hatte die Bisswunde. Sie würde alles beweisen können, was in meinem Leben so richtig schief lief. All meine Probleme.

"Warum warst du in der Pause nicht da? Wir haben dich überall gesucht", Helen hievte sich ihren quietschpinken Rucksack über eine Schulter, während sie sich ihren Ordner unter den anderen Arm gequetscht hatte, damit er nicht herunterfiel. Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Wahrscheinlich dachte sie, ich würde ihr absichtlich aus dem Weg gehen, damit ich ihr nicht die Wahrheit erzählen musste. Doch der Psychologie Unterricht hatte mich dazu gebracht, die Pause im Sekretariat zu verbringen und nach einem Ersatzkurs zu betteln, damit ich diesen Idioten nie wieder gegenübertreten musste. Der einzig freie Kurs war Algebra 1 gewesen und das tat ich mir auf keinen Fall freiwillig an. Da ließ ich mich lieber weiterhin demütigen. Ich musste nur noch ein weiteres Jahr dort aushalten und dann war es vorbei.

"Ich habe versucht, meinen Kurs zu wechseln", gestand ich und nahm mir vor, den beiden endlich die komplette Wahrheit zu erzählen und nicht einen winzigen Punkt auszulassen. Helen runzelte verwundert ihre Stirn, während Caty mich nur verständlich anschaute.

"Ich habe mich schon immer gefragt, warum zum Teufel du Psychologie gewählt hast. Aber du wolltest ja nie auf mich hören", entgegnete Caty mit einem bestätigten Lächeln auf den Lippen.

"Es liegt nicht direkt am Kurs, sondern eher an den Leuten dort", gab ich leise zurück und richtete meinen Blick auf den gefliesten Boden der Schule. Er war wirklich abgrundtief hässlich.

"Was haben diese Idioten gesagt? Wer war es?", sofort wurde Helen wieder hellhörig und aktivierte ihren persönlichen Schutzinstinkt mir gegenüber. Oft übertrieb sie es einfach, aber ich schätzte diese Eigenschaft wirklich sehr an ihr. Sie gab mir das Gefühl, etwas zu bedeuten, wichtig zu sein in der Welt.

"Es war einer von Jasons Freunden. Er hat es bestimmt nur wegen meiner Aktion mit Jason gemacht. Er ist sauer auf mich und seine Freunde ziehen mit", erklärte ich. Ich wollte ihnen die ganze Wahrheit nicht auf dem Schulkorridor erzählen. Das war unpassend. "Lasst uns doch zu Josh gehen. Da erzähle ich euch alles, versprochen."

"Dann kann ich gleich meinen persönlichen Gutschein für eine Portion Fish&Chips einlösen, die ihr mir schuldet", Caty grinste glücklich, woraufhin ich schmunzeln musste. Sie hatte definitiv ein Auge auf Josh geworfen.

Der Wind trieb meine Haare direkt in mein Gesicht. Es war kein besonders sonniger Tag. Dunkle Wolken hingen am Himmel und drohten zu platzen und uns alle mit Regen zu überschütten. Ich mochte solche Tage, wenn man den bevorstehenden Regen bereits in der Luft riechen konnte. Regen war so befreiend. Manche sagten, Regenwetter war unerwünscht, verbreitete schlechte Laune und konnte depressiv machen. Ich fühlte mich frei und neu, als würde das Wasser all meine Sorgen davonspülen. Und genau dieses Gefühl fehlte mir seit Langem. Es war Sommer und obwohl ich in England lebte, direkt am Meer, war das Wetter großartig sonnig und warm. Es stimmte, dass es hier öfter regnete, als in vielen anderen Ländern, aber es war ein Irrglaube, dass es durchgehend nur schüttete. Seit einigen Wochen schien ununterbrochen die Sonne und brachte uns viele Touristen. Hastings war sehr beliebt, gerade bei Großstadtmenschen, die einige Tage Auszeit vom Abgastrubel brauchten. Sie liebten den Kleinstadtflair. Dementsprechend voll war auch Joshs Strandlokal. Überall stopften sich die Menschen den fangfrischen Backfisch in den Mund und waren glücklich darüber, tatsächlich frischen Fisch zu essen. Das Wetter störte sie nicht, es trieb sie lediglich nach Drinnen. So kam es dazu, dass Helen, Caty und ich uns an einen Zweiertisch in der aller letzten abgelegenen Ecke des Lokals zwängten und ich mir sogar einen Stuhl mit Caty teilte. Hoffentlich würden schon bald einige Leute das Lokal verlassen und einen größeren Tisch freimachen. Während Helen sich durchgehend über den Platzmangel beschwerte, merkte ich, wie jemand seinen Arm um mich legte. Erschrocken zuckte ich zusammen, vernahm dann aber die Stimme von Josh.

Hinter dem NebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt