Ich kannte das Gefühl nur allzu gut, wenn die Welt still zu stehen erschien. Wenn man alles ausblendete und sich nur auf eine einzige Sache konzentrierte. Wenn man vergaß, dass man nicht alleine war. Das alles schien mich wie ein beladener Zug zu überrollen. Mein Herz klopfte so stark in meiner Brust, dass ich kurz vor der Eskalation stand. Ich fühlte mich wie in einem meiner Albträume, was mir absurd vorkam, weil mein allnächtlicher Retter genau vor mir stand. Doch das erste Mal schwieg er. Er sagte kein Wort, schaute mich nur an. In seinem Gesicht konnte ich definitiv Verblüffung erkennen, ein seltenes Leuchten in seinen Augen. Es sah so aus, als konnte er gar nicht glauben, dass ich tatsächlich vor ihm stand, als überlege er, ob er vielleicht träumte. Ich spürte einen Funken Hoffnung in meiner Brust aufkeimen. Doch dieser erlosch augenblicklich wieder, als er mir die Tür vor der Nase zuschlug. Ich hörte mein Herz aussetzen und stieß angehaltene Luft aus. Ich erstarrte, wimmerte einmal kurz auf, als ich realisierte, was hier geschehen war. Wie konnte ich so dumm sein? Wie konnte ich einfach so in eine fremde Stadt fahren und an die Haustür eines Fremden kommen, der mir doch trotzdem so vertraut vorkam. Ich spürte eine Hand, die mich an meiner Schulter berührte und drehte mich zu Henry um, der nicht begreifen konnte, welch einen Schritt ich gegangen war, welch dämlichen Schritt voller Hoffnung, dass dieser Junge mein Leben retten könnte. Ich war einfach so naiv. Aber wie sollte Henry es auch begreifen können? Er kannte mich ja nicht einmal. In seine Augen konnte ich nicht schauen, auch wenn ich sie deutlich auf mir spüren konnte.
Ich hörte einen dumpfen Schlag gegen die Haustür und wie sie sich wieder öffnete.
"Was machst du hier?", zum ersten Mal hörte ich seine Stimme direkt hinter mir, in der realen Welt. Ich traute mich nicht, mich zu ihm umzudrehen. Und doch war ich viel zu neugierig, wie sein Blick nun ausschauen würde.
"Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich muss dich sehen und mit dir reden", erwiderte ich leise und gar eingeschüchtert, nachdem ich mich zu ihm umgedreht hatte. Seine Augen funkelten mich wütend an. Ich hatte es geahnt. Noah schwieg erneut. Sein Blick schien mich zu durchbohren. Ich konnte nicht verstehen, warum er mir gegenüber so kalt war. Klar, war das Stalkerimage gerade das Naheliegendste, was mich vermutlich in seinen Augen beschreiben konnte. Wir kannten uns nicht, waren uns noch nie begegnet. Trotzdem kam es mir so vor, als kannte ich ihn schon ewig. Und auch Henry musste das denken. Er stand schweigend hinter mir und räusperte sich. Noah schaute ihn verwundert an. Er hatte ihn zuvor wohl nicht gesehen, so schockiert war er von meinem Auftreten. Nun erhellte sich seine Miene etwas und doch wirkte Noah immer noch wütend.
"Was wird das hier? Warum hast du sie hergebracht, Henry?", wendete sich Noah an seinen Freund.
"Ich, ähm, ich wollte Emma helfen. Sie hat nach dir gesucht", entgegnete Henry kleinlaut, immer noch verwirrt wegen der Kälte, mit der Noah mich betrachtete.
"Anscheinend hat sie mich ja jetzt gefunden. Ich denke, du kannst also wieder gehen. Ich muss das hier klären", Noah packte mich so hektisch am Arm, dass ich gar nicht reagieren konnte. Er zog mich in das Haus hinein und schlug die Tür hinter mir zu, ohne Henry zu verabschieden. Noah war impulsiver als Helen. Das war mir sofort bewusst.
"Also, warum bist du wirklich hier? Was soll das Ganze?", Noah drückte mich gegen die Haustür und kam meinem Gesicht so nahe, dass ich die ungewöhnlichen blauen Sprenkel in seinen tiefengrauen Augen erkennen konnte. Solche Augen kamen mir bekannt vor, mein Vater hatte Ähnliche. Ich dachte immer, es wäre selten. Die Situation sollte mich eigentlich einschüchtern und bedrohlich wirken, aber ich fühlte mich seltsam ruhig.
"Ich sagte doch, ich muss unbedingt mit dir reden, in der realen Welt. Du musst mir helfen", meine Stimme klang flehend. Er blickte mich noch einige Sekunden an, dann ließ er seine Arme sinken und drehte sich von mir weg.
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Hinter dem Nebel
Fantasy"Ich wachte mit solch einer schrecklichen Angst auf, dass mir der Gedanke an Schlaf vollkommen verhasst war." Emma hat Albträume. Jede Nacht stellt sie sich ihren größten Ängsten und möchte ihrem Fluch entkommen, der ihr Leben bestimmt. Doch nicht n...