Seine Vergangenheit war oftmals etwas, das man vergessen wollte. Entweder existierten so grauenvolle Fotos, auf denen man den schrecklichsten Kleidungsstil der Welt hatte oder es war etwas passiert, an das man sich nie wieder erinnern wollte. Etwas, das sein Leben um 180 Grad gewendet hatte. Es gab viele Geschichten von einsamen Kindern, die keine Eltern hatten. Kinder, die nie erfahren durften, was es hieß, Mitglied einer Familie zu sein. Es gab Kinder, dessen Eltern auf tragische Weise ums Leben kamen, Kinder, dessen Eltern sie weggaben, um ein besseres Leben zu haben und Kinder, dessen Familie ein Grauen war. Gegen all diese Fälle waren meine Erlebnisse jedoch akzeptabel. Ich konnte damit Leben, dass meine Mutter uns verlassen hatte, denn ich hatte immer noch meinen Vater. Und auch, wenn ich ihn fast nie zu Gesicht bekam, da er sein ganzes Leben der Arbeit widmete, war ich froh, keines dieser Kinder zu sein, die gar keine Familie hatten. Wie grau musste einem das Leben erscheinen, wenn keine Sonne schien, wenn man nicht wusste, wo man überhaupt hingehörte. Ich sollte mich nicht selbst bemitleiden, wo es anderen doch viel schlimmer erging. Denn es gab Kinder, die besaßen gar nichts. Nichts, außer einer Sache. Der einzige Besitz, den jeder Mensch hatte und den ihm niemand jemals nehmen konnte, war sein Name. Jeder besaß einen Namen und manchmal konnte er das Tor zu etwas Großem sein.
-Ich hörte ein Schreien, ein stetiges Schreien, das nicht aufhörte. Sehen konnte ich rein gar nichts. Ein dunkler Schleier legte sich über meine Augen und umhüllte meinen Körper mit Kälte, die mich auf der Stelle erschaudern ließ. Meine Arme waren von einer Gänsehaut überzogen, obwohl ich einen dicken Pullover trug. Dieser Teil der Schattenwelt war eiskalt. Ich spürte einen rauen Boden unter mir, wahrscheinlich eine Art grober Beton, der nicht abgeschliffen wurde. Winzige stechende Unebenheiten des Bodens bohrten sich in meine Knie, die aufgrund meiner kurzen Pyjamashorts frei lagen. Das Schreien ertönte immer noch. Es klang nach einem Kind, einem kleinen Baby, das alleine gelassen wurde. Es hallte durch den gesamten Raum, der anscheinend leer war. Ich tastete vorsichtig hinter mich und spürte sogleich die kantige Oberfläche einer Wand, die ebenfalls aus Beton bestand. Sie war kalt, wie der gesamte Raum. In meinen Ohren hallte das Schreien, dass von den kahlen Wänden gedämmt wurde und mir somit verriet, dass der dunkle Raum komplett abgeschlossen war. Angestrengt kniff ich meine Augen zusammen, um sie an die Dunkelheit zu gewöhnen und wenigstens verschwommene Umrisse sehen zu können. Das Schreien war nicht weit von mir entfernt, also konnte der Raum nicht allzu groß sein. Es erschien mir eher ein kleinerer Saal zu sein, der leer stand. Ich blinzelte und erkannte anschließend die Ecken des Saales, die nicht mehr als 15 Meter von mir entfernt lagen. Dort musste sich das Baby befinden und sich die Seele aus dem Leib schreien. Es zerfraß meine Ohren und zog sich seinen Weg bis hoch in meinen Kopf, der zu schmerzen begann. Die Schreie klangen qualvoll und ich hatte keine andere Wahl, als das Kind zu beruhigen, wenn mein Kopf nicht platzen sollte. Ich stemmte mich auf meinen Händen hoch und rappelte mich vom Boden auf. Durch meine dicken Wollsocken spürte ich die schmerzenden Unebenheiten des Betonbodens nur noch minimal und wagte deshalb einige Schritte in Richtung des Geschrei. Je dichter ich dem Ende des Raumes kam, desto klarer wurde meine Sicht. Mein Atem ging flach und stoßweise, mein Herz drohte mir aus der Brust zu springen. Ich setzte einen weiteren Fuß vor den anderen, als meine Augen erstmals ein winziges Bündel am Boden wahrnahmen. Neben dem Bündel huschte ein schwarzer langer Schatten geräuschlos davon. Erschrocken sprang ich ein Stück zurück an die nächste Wand. Ich hörte das Schreien und das Pochen meines Herzes in meinen Ohren. Mein ganzer Körper vibrierte. Ich presste meine Augen zusammen, öffnete sie und hoffte inständig, dass der Schatten davon war. Auf dem Boden vor mir lag das schreiende Kind. Ein Schatten war nicht zu sehen, so sehr ich meine Augen wegen der Dunkelheit auch anstrengte. Er war die ganze Zeit bei dem Kind gewesen und war nun gegangen, als ich mich näherte. Erinnerungen sprangen vor meine Augen, eine Situation, an die ich mich eigentlich gar nicht erinnern konnte, die mir aber trotzdem so vertraut vorkam, als hätte ich alles bewusst zur Kenntnis genommen. Rasch schüttelte ich mit dem Kopf, um diesen Gedanken zu verwerfen. Ich versuchte, meine Angst vor der Schattengestalt auszublenden und bewegte mich auf das schreiende Baby zu. Trotz der Dunkelheit konnte ich die zerlumpte Decke erkennen, in das es gewickelt war. Sein Gesicht zierten Dreck und Schmutz und der winzige Zahn, der bereits vorhanden war, glänzte in einem tiefen Schwarz. Ich beugte mich über das Kind, hockte mich auf den Boden und streckte meine Hand nach ihm aus. Doch so schnell, wie das kleine Baby sein Geschrei erstickte und auf unnatürliche Art und Weise seine Glieder verdrehte, um mich anzuspringen, konnte ich nicht reagieren. Winzige Hände mit scharfen Krallen bohrten sich direkt in meinen Hals und zogen tiefe Kratzer durch die blutende Haut. Auch mein Geschrei wurde erstickt.-

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Hinter dem Nebel
Fantasy"Ich wachte mit solch einer schrecklichen Angst auf, dass mir der Gedanke an Schlaf vollkommen verhasst war." Emma hat Albträume. Jede Nacht stellt sie sich ihren größten Ängsten und möchte ihrem Fluch entkommen, der ihr Leben bestimmt. Doch nicht n...